Antworten auf die 4 häufigsten Fragen zur Jahresbilanz 2024

23.05.2025

Nach der Veröffentlichung der Jahresbilanz rechte, rassistische und antisemitische Gewalt 2024 der Opferberatungsstellen im VBRG e.V. haben wir sehr viele positive und unterstützende Rückmeldungen und eine Reihe von Fragen zu einzelnen Aspekten und Themenschwerpunkten erhalten.

Antworten auf die 4 häufigsten Fragen gibt es hier:

1. Wie kommt es zu dem Anstieg von 24 Prozent?

An dem Monitoring und der Jahresbilanz 2024 waren Opferberatungsstellen in zwölf von 16 Bundesländern beteiligt: Bayern, Baden-Württemberg, Brandenburg, Berlin, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein, Thüringen und zum ersten Mal auch Hessen. Dabei wurden insgesamt 3.453 rechts, rassistisch und antisemitisch motivierte Angriffe registriert und damit einen massiven Anstieg im Vergleich zum Vorjahr (2023: 2.589 Angriffe).

Um eine seriöse Vergleichbarkeit der Entwicklung bei den Angriffszahlen von 2023 zu 2024 in den prozentualen Angaben zu ermöglichen, wurden für das Jahr 2024 die erstmals in den absoluten Zahlen mitgemeldeten 158 Angriffe aus Hessen nicht in die Berechnung des Anstiegs von 24 Prozent aufgenommen.

2. Wie erklärt sich die Diskrepanz zwischen den Zahlen der Opferberatungsstellen und des Bundeskriminalamts und welche Parallelen gibt es?

Parallel zur Jahresbilanz der Opferberatungsstellen haben auch das Bundeskriminalamt und das Bundesinnenministerium die Jahresbilanz 2024 zur Politisch Motivierten Kriminalität veröffentlicht: Im Phänomenbereich PMK Rechts Gewalt hat das BKA für 16 Bundesländer insgesamt 1.488 Gewalttaten registriert in 16 Bundesländern (2023: 1.270) und damit einen Anstieg um 17,1 Prozent. Dabei überwiegen Körperverletzungen. Mit 1.297 vom BKA registrierten Gewalttaten im Jahr 2024 (2023: 1.123) ist ein Anstieg um 15,4 Prozent zu verzeichnen. „Ausländerfeindlichkeit“ ist dabei mit 828 Fällen das überwiegende Tatmotiv. Die Opferberatungsstellen im VBRG e.V. haben in 12 von 16 Bundesländern insgesamt 1.824 Körperverletzungsdelikte registriert (2023: 1.402) und damit einen Anstieg von 23 Prozent. Rassismus ist dabei mit 1.109 Fällen das überwiegende Tatmotiv.

Es gibt viele Parallelen zwischen den Zahlen des BKA im Phänomenbereich PMK Rechts und der Jahresbilanz der Opferberatungsstellen: Die Gesamtzahl der Gewalttaten und die Anzahl der Körperverletzungsdelikte ist jeweils erheblich gestiegen im Vergleich zum Vorjahr und Rassismus ist in der großen Mehrheit der Fälle das Tatmotiv.

Für die erhebliche Diskrepanz von 3.453 rechts, rassistisch und antisemitisch motivierten Angriffen in der Jahresbilanz der Opferberatungsstellen und den 1.488 PMK Rechts Gewalttaten, die das BKA im gleichen Zeitraum in 16 Bundesländern registriert hat, gibt es drei Hauptfaktoren:

1) Die Opferberatungsstellen erfassen seit 2022 auch verstärkt Nötigungen und Bedrohungen, wenn diese strafbar nach §§ 240, 241 StGB sind und/oder gravierende Folgen für die Betroffenen haben. Für das Jahr 2024 haben die Opferberatungsstellen insgesamt 1.212 Nötigungen und Bedrohungen erfasst, die damit ein Drittel der Gesamtzahl ausmachen. Dafür werden in der PMK auch Widerstandsdelikte nach §113 StGB erfasst, die die Opferberatungsstellen nicht registrieren können:

2) Die PMK Rechts Statistik ist eine Eingangsstatistik – d.h. wenn im Verlauf der Ermittlungen oder im Strafprozess beispielsweise Rassismus als Tatmotiv festgestellt wird, dies aber bei der polizeilichen Ersterfassung nicht angegeben wurde, kann eine Änderung nicht mehr angegeben werden. Deshalb gibt es schon seit langem Forderungen von Kriminolog:innen und Praktiker:innen nach einer Evaluation und Reform der Erfassungskriterien und -praxis. (vgl. u.a. Heike Kleffner in IDZ Jena, Wissen schafft Demokratie Schriftenreihe 04/2018).

3)  Der Themenfeldkatalog der politisch motivierten Kriminalität (PMK) wird in den 16 Landespolizeien nicht einheitlich angewendet, wie das folgende Beispiel verdeutlicht: Beim AfD-Bundesparteitag im Juni 2024 in Essen (NRW) verletzte ein 67-jähriger AfD-Delegierter einen Gegendemonstranten durch einen Biss in die Wade. Dieser Vorfall wurde jedoch nicht in der Statistik der PMK-Rechts-Gewalttaten für das Jahr 2024 erfasst, wie sie vom Landeskriminalamt NRW geführt wird. Dies hat die Opferberatung Rheinland im Rahmen ihrer Recherchen festgestellt. (Vgl. Antwort der Landesregierung Nordrhein-Westfalen auf die Kleine Anfrage 5087 des Abgeordneten Sven Wolf, SPD-Fraktion: „Politisch motivierte Kriminalität Rechts im Jahr 2024“, LT-Drs. 18/12765 vom 19.3.2025)

4) Bei Abgleichen zwischen den Falllisten der PMK Rechts Gewalttaten von Landeskriminalämtern und Opferberatungsstellen einzelner Bundesländer wird regelmäßig deutlich, dass 1/3 der Fälle sowohl von Polizei und Opferberatungen als rechts motivierte Gewalttaten erfasst werden; 1/3 der PMK Rechts Fälle wird den Opferberatungen erst durch Antworten auf Kleine Anfragen bekannt; und 1/3 der Fälle wird von der Polizei zwar als Delikt erfasst, aber nicht als PMK Rechts eingestuft.

5) Die Opferberatungsstellen erfassen nach sorgfältiger Prüfung auch Angriffe, die von Betroffenen nicht zur Anzeige gebracht wurden – dabei handelt es sich lediglich um knapp 10 Prozent der registrierten Fälle (2024: 345).

3. Wie groß ist das tatsächliche Ausmaß rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt?

Die Statistiken der politisch motivierten Kriminalität (PMK) der Polizei sowie die Jahresberichte der Opferberatungsstellen erfassen grundsätzlich nur einen Teil der tatsächlichen Gewaltrealität im Zusammenhang mit Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus. Sie bilden lediglich das sogenannte „Hellfeld“ ab – also jene Fälle, die von Betroffenen zur Anzeige gebracht wurden, den Opferberatungsstellen gemeldet wurden oder bei denen Polizei und Staatsanwaltschaft von sich aus Ermittlungen aufgenommen haben.

Zahlreiche wissenschaftliche Studien – darunter Untersuchungen des Kriminologischen Instituts des BKA, des Landeskriminalamts Niedersachsen sowie der Europäischen Grundrechteagentur (2023) – weisen darauf hin, dass im Bereich vorurteilsmotivierter Gewaltkriminalität ein erheblicher Teil der Taten nicht zur Anzeige gebracht wird. Je nach Studie liegt der Anteil der nicht angezeigten Fälle zwischen 30 und 50 Prozent.

Aus der Praxis der Opferberatungsstellen sowie aus der Studie des IDZ Jena zur sekundären Viktimisierung von Betroffenen im Umgang mit Polizei und Justiz (2023) geht hervor, dass viele Betroffene aus unterschiedlichen Gründen auf eine Anzeige verzichten. Dazu zählen die Angst vor weiteren Angriffen oder Racheakten durch die Täter:innen sowie negative, teils diskriminierende Erfahrungen im Kontakt mit staatlichen Stellen, die zu einem tiefgreifenden Vertrauensverlust gegenüber Polizei und Justiz führen.

4. Wie wird Antisemitismus und Rassismus im Monitoring der Opferberatungsstellen erfasst?

Die Erfassungskriterien der Mitgliedsorganisationen des VBRG sind Bestandteil der gemeinsamen Qualitätsstandards. Die Definition  rechtsmotivierter, rassistischer, antisemitischer und LGBTIQ+-/queer- und transfeindlicher Gewalt  der Beratungsstellen ist angelehnt an jene aus dem polizeilichen Definitionssystems der Politisch motivierten Kriminalität des Bundeskriminalamts (BKA) (2001 durch die Innenministerkonferenz beschlossen und seitdem in Kraft, zuletzt überarbeitet mit Stand Oktober 2024). Ausschlaggebend für die Bewertung einer Tat als rechtsmotiviert, rassistisch oder antisemitisch sind die Wahrnehmung der Betroffenen und/oder:

a) Kriterien, die Aussagen über die Einstellung des Täters zulassen, sind:

  • Äußerungen des Täters vor, während oder nach der Tat – darunter entsprechende Chat-/Social Media-Nachrichten/Posts, Tatbekennungen in Videos oder Telegramgruppen
  • Kleidung oder Symbole, die der Täter trägt
  • Organisierung des Täters in einschlägigen Gruppierungen

b) Umstände der Tat:

  • Tatkontext wie Zeit und Ort (einschlägige Daten wie 20. April, Männertag, 1. Mai, etc. oder Orte wie Volksfeste, Demonstrationen)
  • Tatzusammenhänge wie wiederholte Angriffe, auch unterhalb der Gewaltschwelle (Sachbeschädigungen, Schmierereien, Aufkleber, etc.)
  • Art der Tatbegehung (Exzess, besondere Brutalität, Demütigung, Folter)
  • Die Auswahl des Opfers.

Aus der Tat selbst spricht mit der Auswahl des Opfers die Einstellung des Täters. Der Angriff wird aufgrund von Ungleichwertigkeitsvorstellungen verübt, d.h. aufgrund der Einstellung, dass ein Mensch wegen seiner Hautfarbe, sexuellen Orientierung oder seines Erscheinungsbildes, nicht genauso viel wert sei. Die Tat richtet sich nicht gegen das Individuum als solches, sondern stellvertretend gegen eine Gruppe.

Ausgehend davon werden im Phänomenbereich Antisemitismus von den Opferberatungsstellen Angriffe erfasst, die von Täter:innen unterschiedlichster Herkunft und ideologischer Motivation verübt werden.

Im Monitoring des VBRG wird – analog zum Themenfeld Hasskriminalität / Antisemitismus der PMK des BKA – antisemitische Gewalt unabhängig von der politischen, ideologischen und religiösen Selbstverortung der Täter:innen dokumentiert. Darunter zählen Formen der Shoa-Leugnung und Verherrlichung ebenso wie post-Shoah-Antisemitismus und des israelbezogenen Antisemitismus. Die Staatsbürgerschaft und/oder Herkunft von Täter:innen wird im Monitoring der Opferberatungsstellen nicht erfasst. Sowohl in der PMK Hasskriminalität im Unterthemenfeld Antisemitismus als auch im Monitoring der Opferberatungsstellen überwiegen antisemitische Angriffe durch rechte Täter:innen.

Ein tödlicher israelbezogener Antisemitismus, der im IS-Bekennervideo als zentrales Motiv des Anschlags sichtbar wird, führt bei RIAS NRW, der Landesregierung Nordrhein Westfalen und der Opferberatung Rheinland dazu, dass der islamistische Terroranschlag am Abend des 23. August 2024 in Solingen als antisemitische Tat gewertet wird – und die Tat analog auch in der Jahresbilanz der Opferberatungsstellen als antisemitisch motiviertes Tötungsdelikt genannt wird. Bei dem Anschlag tötete ein 27-jähriger Anhänger der Terrororganisation „Islamischer Staat“ während des städtischen „Festivals der Vielfalt“ auf dem Marktplatz in Solingen drei Menschen: Ines W. (56 Jahre), Stefan S. (67 Jahre) und Florian H. (56 Jahre). Acht weitere Menschen wurden verletzt, vier davon schwer.

Im Monitoring des VBRG wird gewalttägiger Rassismus unabhängig von der politischen, ideologischen und religiösen Selbstverortung der Täter:innen dokumentiert. Die Staatsbürgerschaft und/oder Herkunft von Täter:innen wird im Monitoring der Opferberatungsstellen nicht erfasst.

Am 11. Juli 2024 starb in Berlin-Wedding der Schwarze Familienvater William Chedjou an einem tödlichen Messerstich nach einem Streit um einen Parkplatz. Angehörige und Unterstützer:innen der Familie sowie die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD) kritisierten das Urteil des Landgerichts Berlin, weil Rassismus als tatverstärkendes Motiv nicht berücksichtigt wurde – und dem unbewaffneten William Chedjou eine Mitverantwortung zugeschrieben wurde. Die Migrationsbiografie des Täters ist dabei unerheblich, da Rassismus in postmigrantischen Gesellschaften Ausdruck von Macht-, Diskriminierungs- und Vorurteilsverhältnissen ist.