Verschleppte Gerechtigkeit im Schatten der Kulturhauptstadt: Prozessauftakt über sechs Jahre nach den Neonazi-Angriffen vom 1. September 2018

Pressemitteilung der Beratungsstelle „Support“ des RAA Sachsen e.V. in Sachsen und dem bundesweiten Dachverband VBRG e.V.

Chemnitz, Berlin, 08.05.2025

Am 13. Mai 2025 beginnt ein weiteres Verfahren zu den Neonazi-Angriffen auf Gegendemonstrant*innen während der rassistischen und rechten Ausschreitungen am 1. September 2018 in Chemnitz. An diesem Tag griff eine bundesweit angereiste Neonazi-Gruppe gezielt Menschen an, die sich gegen die anhaltenden rechten Mobilisierungen stellten. Die Angreifer schlugen, traten, demütigten und bedrohten ihre Opfer. Doch bis heute, mehr als sechs Jahre nach den Taten, gibt es keine konsequente strafrechtliche Aufarbeitung. Nun verhandelt das Landgericht Chemnitz u.a. gegen den bundesweit bekannten Neonazi und Kampfsportler Lasse Richei aus Braunschweig.

Rechtsanwalt Onur Özata, der zwei Nebenkläger*innen im Verfahren vertritt sagt dazu: “Die Betroffenen erhoffen sich von dem Verfahren Aufklärung darüber, wie sich der rechte Mob organisiert und koordiniert hat. Wer waren die Rädelsführer? Wie hat die bundesweite Vernetzung im Vorfeld der Demonstration und dann bei den Hetzjagden in Chemnitz funktioniert? Der Prozess wird zeigen, ob rechte Gewalt tatsächlich in unserem Land ernst genommen wird. Die schleppenden Ermittlungen sprechen bislang nicht dafür.”

Die Erfahrungen aus den bisherigen Verfahren zeigen deutlich: Die Justiz in Sachsen hat es über viele Jahre hinweg versäumt, angemessen auf die Neonazi-Angriffe vom 1. September 2018 in Chemnitz zu reagieren. Die Verfahren wurden mit großer Verzögerung eröffnet und überwiegend eingestellt. Aufgrund der verschleppten Strafverfolgung wurden sie – obwohl einige Angeklagte ihre Beteiligung an den Angriffen einräumten – meist gegen Geldauflagen eingestellt. Gleichzeitig sehen sich die Betroffenen mit immensen emotionalen und finanziellen Belastungen konfrontiert, unter anderem, weil die Kosten für ihre juristische Vertretung nur zum Teil übernommen werden.

„Nach dem enttäuschenden Ausgang im ersten Prozess 2024 wäre ein weiteres entmutigendes Verfahrensende fatal. Es braucht klare Zeichen der Solidarität und von Seiten der Justiz ein eindeutiges Signal des Schutzes für alle, die sich tagtäglich gegen rechte Gewalt einsetzen„, sagt Regina Will, Beraterin bei der Betroffenenberatung response in Kassel, die Betroffene berät, welche damals aus Hessen kamen,  und betont: „Mit großer Sorge beobachten wir die stetig zunehmende Radikalisierung des gesellschaftlichen Diskurses und steigende Angriffszahlen: Rassismus, Antisemitismus und rechte Hetze erfahren immer offenere Unterstützung, während die demokratische Zivilgesellschaft unter Druck gerät. Verfahren wie dieses sind deshalb von besonderer Bedeutung.“

„Dass dieser erstinstanzliche Prozess nun ausgerechnet im Jahr 2025 beginnt, in dem sich Chemnitz als Europäische Kulturhauptstadt präsentiert, macht die Schieflage besonders deutlich: Während sich die Stadt der Welt von ihrer bunten, weltoffenen Seite zeigen möchte, wartet ein Teil ihrer Stadtgesellschaft nach schweren Neonaziangriffen weiterhin auf Anerkennung, Aufarbeitung und Gerechtigkeit. Es braucht mehr als bunte Bilder und Festivals, um den Anspruch an eine solidarische und demokratische Stadtgesellschaft einzulösen. Eine ernst gemeinte Kultur des Erinnerns und der Aufarbeitung rechter Gewalt muss integraler Bestandteil der Kulturhauptstadt Chemnitz 2025 sein.“ sagt Anna Schramm, Beraterin bei der Opferberatung Support des RAA Sachsen e.V.  in Chemnitz.

Die Prozesstermine am Landgericht Chemnitz sind am:

Dienstag, 13.05.2025, 09:00 Uhr, Sitzungssaal 036, Nebengebäude
Mittwoch, 14.05.2025, 09:00 Uhr, Sitzungssaal 036, Nebengebäude
Dienstag, 20.05.2025, 09:00 Uhr, Sitzungssaal 036, Nebengebäude
Mittwoch, 21.05.2025 , 09:00 Uhr, Sitzungssaal 036, Nebengebäude
Dienstag, 27.05.2025, 09:00 Uhr, Sitzungssaal 036, Nebengebäude
Mittwoch, 28.05.2025 , 09:00 Uhr, Sitzungssaal 036, Nebengebäude
Dienstag, 17.06.2025, 09:00 Uhr, Sitzungssaal 036, Nebengebäude
Mittwoch, 18.06.2025, 09:00 Uhr, Sitzungssaal 036, Nebengebäude
Donnerstag, 19.06.2025, 09:00 Uhr, Sitzungssaal 036, Nebengebäude
Dienstag, 01.07.2025, 09:00 Uhr, Sitzungssaal 036, Nebengebäude
Mittwoch, 02.07.2025 , 09:00 Uhr, Sitzungssaal 036, Nebengebäude
Donnerstag, 03.07.2025 , 09:00 Uhr, Sitzungssaal 036, Nebengebäude

Außerdem sind folgende fünf Termine als Puffer-Termine bekannt gegeben geworden:

Montag, 28.07.2025, 09:00 Uhr, Sitzungssaal 036, Nebengebäude
Montag, 11.08.2025 , 09:00 Uhr, Sitzungssaal 036, Nebengebäude
Mittwoch, 27.08.2025 , 09:00 Uhr, Sitzungssaal 036, Nebengebäude
Mittwoch, 17.09.2025 , 09:00 Uhr, Sitzungssaal 036, Nebengebäude
Donnerstag, 18.09.2025, 09:00 Uhr, Sitzungssaal 036, Nebengebäude

Zum Hintergrund 

Der am 13. Mai 2025 am Landgericht Chemnitz beginnende Prozess ist Teil des sogenannten „Chemnitz-2018-Komplexes“. Angeklagt sind insgesamt vier mutmaßliche Angreifer, darunter der Braunschweiger Neonazi Lasse Richei. Die Anklage wirft den Neonazis schweren Landfriedensbruch und gefährliche Körperverletzung vor.

Am Rande des  Aufmarschs vom 1. September 2018 von mehreren tausend Aktivisten und Anhänger*innen der extremen Rechten in Chemnitz  – darunter die Führungsriege der extrem rechten AfD,  der Neonazi-Kleinstpartei „Der Dritte Weg“, der Partei „Pro Chemnitz“ und militante Neonazis – verübte eine Gruppe von mehr als zwei Dutzend organisierten Neonazis und rechten Kampfsportaktivisten aus dem gesamten Bundesgebiet gezielte Angriffe auf antirassistische  Gegendemonstrant*innen. Mehrere Personen wurden dabei verletzt.

Nach Strafanzeigen einiger Nebenkläger*innen und Verletzten ermittelte die Staatsanwaltschaft zunächst gegen 27 mutmaßlich tatbeteiligte Rechte und trennte die Ermittlungen dann in drei Verfahren à neun Beschuldigte auf.

Erst drei Jahre nach den rassistischen Angriffen im Anschluss an die rechte Demonstration und der Demonstration unter dem Motto „Herz statt Hetze“ am 1. September 2018 in Chemnitz erhob die Staatsanwaltschaft Chemnitz am 7. Oktober 2021 überhaupt Anklage gegen neun Beschuldigte vor der 1. Strafkammer des Landgerichts Chemnitz – dieses Verfahren ist bis heute nicht eröffnet.

Am 11. Dezember 2023 begann schließlich ein erster von mehreren Gerichtsprozessen am Landgericht Chemnitz. Von zunächst neun Angeklagten erschienen zum Auftakt der Hauptverhandlung lediglich fünf – Männer im Alter von 27 bis 44 Jahren aus Sachsen und Niedersachsen. Die Anklage lautete auf schweren Landfriedensbruch und gefährliche Körperverletzung.

Noch vor Beginn der Hauptverhandlung wurden die Verfahren gegen zwei Angeklagte eingestellt, zwei weitere entzogen sich der Strafverfolgung:

Der mehrfach einschlägig wegen Gewaltdelikten verurteilte Neonazi Steven Feldmann aus Dortmund entzog sich der Strafverfolgung und einem drohenden Haftantritt aus einem anderen Verfahren durch Flucht ins Ausland. Auf Betreiben der Dortmunder Strafverfolgungsbehörden wurde er Ende April 2025 in Bulgarien festgenommen und inzwischen nach Deutschland ausgeliefert. Das Verfahren gegen ihn im Zusammenhang mit den Angriffen in Chemnitz stellte das Landgericht Chemnitz im Mai 2024 per Beschluss ein – mit der Begründung, dass die zu erwartende Strafe im Berufungsverfahren am Landgericht Dortmund deutlich höher ausfallen werde als im Chemnitzer Verfahren.

Ein weiterer Angeklagter, Pierre Bauer – ebenfalls einschlägig vorbestrafter Neonazi aus Braunschweig – entzog sich dem Prozessbeginn im Dezember 2023 durch einen temporären Aufenthalt in einer psychiatrischen Einrichtung. Das Verfahren gegen ihn ist derzeit ausgesetzt.

Die übrigen Angeklagten räumten lediglich in standardisierten Sätzen ihre Teilnahme an mehreren Angriffen gegen antifaschistische Gegendemonstrant*innen am 1. September 2018 in Chemnitz ein. Am 19. Januar 2024 stellte das Landgericht Chemnitz dann die Strafverfahren gegen die drei verbliebenen Angeklagte nach § 153 Strafprozessordnung gegen Zahlung einer Geldbuße von 1.000 Euro ein. Bereits am zweiten Verhandlungstag, dem 13. Dezember 2023, hatte ein Angeklagter eine Einlassung abgegeben – verbunden mit einer Zahlung von 1.000 Euro. Für die Nebenkläger*innen und weitere Betroffene der Neonazi-Angriffe und Hetzjagden am 1. September 2018 in Chemnitz und solidarische Beobachter*innen war der Prozessausgang ein verheerendes Signal für die fehlenden Konsequenzen nach rechter und rassistischer Gewalt.

Am 13. Dezember 2024 beschloss die Jugendkammer des Landgerichts Chemnitz die Eröffnung eines weiteren Verfahrens. Dieses findet vor dem Jugendgericht statt, da die Angeklagten zur Tatzeit zwischen 17 und 20 Jahre alt waren. Gerade dies wirft Fragen auf hinsichtlich des Verständnisses der sächsischen Justiz des Jugendstrafrechts – soll dieses doch nicht primär bestrafen, sondern erneute Straffälligkeit verhindern.

Am Beispiel von Lasse Richei – gegen den am 13. Mai 2025 das Verfahren vor dem Landgericht Chemnitz eröffnet wird – zeigt sich, dass dies nicht gelungen ist: In den über sechs Jahren seit der Tat beging er weitere Gewaltstraftaten. Statt Einsicht zu zeigen, hat er seine Ideologie verfestigt.

Auch die weiteren Angeklagten sind mehrfach wegen rechter Straftaten bzw. Teilnahmen an extrem rechten Demonstrationen aufgefallen. Sie lassen sich teilweise von Anwält*innen der rechten Szene vertreten. Für die Betroffenen ist dieses Verfahren deswegen mit vielen Ängsten verbunden – denn sie müssen die Täter nach mehr als sechs Jahren vor Gericht wiedersehen, müssen Angst haben, dass diese weiteren Neonazis mit zu Gericht bringen und werden im Zeugenstand von Anwält*innen befragt, die geübt darin sind Personen aus der rechten Szene zu vertreten.

Das letzte Verfahren vor der 1. Strafkammer des Landgerichts Chemnitz ist bis heute nicht eröffnet worden. Fast sechs Jahre nach den rassistischen Ausschreitungen in Chemnitz lehnte das Landgericht im Mai 2024 die Eröffnung eines weiteren Hauptverfahrens ab. Diese Entscheidung wurde jedoch vom Oberlandesgericht Dresden nicht bestätigt: Es ordnete an, dass das Hauptverfahren gegen zwei der Angeschuldigten eröffnet werden muss.

Eine Prozessdokumentation zum ersten Verfahren finden Sie hier: https://www.raa-sachsen.de/support/prozessdokus

https://www.raa-sachsen.de/support/pressemeldungen/pressemitteilung-des-vbrg-zum-prozess-um-ausschreitungen-2018-in-chemnitz-8006

Hintergrundinformationen zu Lasse Richei, Steven Feldmann und Pierre Bauer finden Sie u.a. hier:

https://antifainfoblatt.de/aib142/chemnitz-milde-urteile-nach-neonazi-gewalt
https://www.nordstadtblogger.de/die-flucht-endet-in-handschellen-neonazi-steven-feldmann-wurde-in-bulgarien-festgenommen/
https://www.falken-nds.de/uebergriffe-und-morddrohungen-rechter-strassenterror-in-braunschweig-ist-fuer-uns-alltag/
https://www1.wdr.de/nachrichten/ruhrgebiet/festnahme-gesuchter-neonazi-steven-f-dortmund-100.html
https://taz.de/Braunschweiger-Neonazis-machen-weiter/!5603993/
https://taz.de/Milde-Strafe-fuer-rechtsextreme-Angriffe/!5810702/

Bei Rückfragen können Sie sich gerne an uns wenden:

Opferberatung SUPPORT
Mail: opferberatung.chemnitz@raa-sachsen.de

response. Beratung für Betroffene von rechter, rassistischer und antisemistischer Gewalt 
Mail: Presse.response@frankfurt-evangelisch.de