- Der Verband der fachspezifischen Opferberatungsstellen (VBRG e.V.) unterstützt die Errichtung der Stiftung „Gedenken und Dokumentation NSU-Komplex“ ausdrücklich und begrüßt den Gesetzentwurf zur Drucksache 20/14024 als wichtigen Meilenstein. Damit würde eine der parteiübergreifenden Empfehlungen der Abschlussberichte der Untersuchungsausschüsse zum NSU-Komplex im Bundestag (BT-Drs. 17/14600, BT-Drs. 18/12950) endlich umgesetzt.
- Eine nachhaltige Auseinandersetzung mit dem NSU-Komplex und Rechtsterrorismus kann nur erfolgreich sein, wenn die Perspektiven der Hinterbliebenen und Überlebenden im Zentrum der Stiftung stehen und sich dies auch in Mitwirkungsmöglichkeiten und Entscheidungsgremien widerspiegelt.
- Die zukünftige Stiftung und das Stiftungsgesetz sollten als weiteren Stiftungszweck einen Fonds zur materiellen Entschädigung für Hinterbliebene und Geschädigte aufnehmen. Die bestehenden Lücken im Sozialen Entschädigungsrecht (SER) benachteiligen und belasten die Hinterbliebenen und Geschädigten der Mord-, Anschlags- und Raubüberfallserie existenziell.
- Um die Glaubwürdigkeit der Stiftung langfristig sicherzustellen, ist es notwendig die Stiftung vor rechtsextremen Einflussnahmen und Parteien zu schützen und dies im Gesetz zu verankern.
- Um die Stiftung nachhaltig, inklusiv und zukunftsorientiert zu gestalten, regen wir an, die Einbindung von Jugendlichen und lokalen Strukturen weiter zu stärken.
1. Einleitung
Der Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt e. V. (VBRG) und die darin zusammengeschlossenen fachspezifischen Gewaltopferberatungsstellen in 14 Bundesländern begrüßen den überarbeiteten Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Errichtung einer „Stiftung Gedenken und Dokumentation NSU-Komplex“. Mit unserer Stellungnahme wollen wir einen konstruktiven Beitrag leisten, um die Arbeit der zukünftigen Stiftung wirksamer und inklusiver zu gestalten.
Wir betonen, dass die intensive Auseinandersetzung mit dem NSU-Komplex und dessen politisch-historischer Bedeutung sowie ein betroffenenzentriertes Gedenken an die Opfer der rassistischen und rechtsterroristischen Mord- und Anschlagsserie von überragender gesamtgesellschaftlichen Bedeutung ist – und seit über einem Jahrzehnt von Hinterbliebenen von Enver Şimşek (38), Abdurrahim Özüdoğru (49), Süleyman Taşköprü (31), Habil Kılıç (38), Mehmet Turgut (24), İsmail Yaşar (50), Theodoros Boulgarides (41), Mehmet Kubaşık (39), Halit Yozgat (21) sowie Michèle Kiesewetter (22) und den zahlreichen Überlebenden der rassistischen Sprengstoffanschläge 1999 in Nürnberg sowie 2001 und 2004 in Köln eingefordert wird. Die Errichtung der Stiftung bietet eine einzigartige Chance, die Aufarbeitung und das Gedenken an die Opfer des Neonazi-Terrornetzwerks NSU umfassend zu institutionalisieren.
2. Statement von Gamze Kubaşık und Semiya Şimşek
Das nachfolgende Statement von Gamze Kubaşık und Semiya Şimşek, die als Töchter von Mehmet Kubaşık und Enver Şimşek zu den Hinterbliebenen der Mordopfer gehören und sich seit Jahrzehnten für Aufklärung, Erinnerung, Gerechtigkeit und Konsequenzen einsetzen, wurde uns zur Veröffentlichung im Rahmen der Anhörung im Innenausschuss am 27.1.2025 übersandt:
„Wir fordern ein Dokumentationszentrum, weil der NSU-Komplex nicht abschließend aufgeklärt wurde. Es braucht Orte, um die Geschehnisse aufzuarbeiten, wissenschaftlich zu erforschen und den Austausch zu fördern. Gerechtigkeit kann nur entstehen, wenn wir Räume zum Erinnern schaffen. Wir müssen hinterfragen und reflektieren, was geschehen ist, an die Taten des NSU und das Versagen des Staates erinnern, um unser Land davor zu bewahren, erneut empfänglich für solche Schreckenstaten zu werden. Ein Dokumentationszentrum würde einen Lernraum bieten, um die Geschichte aufzuarbeiten und Empathie für diejenigen zu entwickeln und aufrechtzuerhalten, die unter Rassismus und rechter Gewalt gelitten haben und immer noch leiden.“ (Gamze Kubaşık und Semiya Şimşek, Januar 2025)
Der Gesetzentwurf stellt somit einen längst überfälligen Schritt dar, insbesondere in Hinblick auf die notwendige, kontinuierliche Auseinandersetzung mit der mörderischen Dimension rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt und institutionellen Rassismus, die bisher unzureichend im Fokus der allgemeinen Öffentlichkeit stehen. Eine Stiftung, die sich explizit mit einem Fokus auf die Perspektive der Hinterbliebenen und Überlebenden „mit der Geschichte des NSU, deren Opfern und von ihren Taten Betroffenen und darüber hinaus mit der Geschichte des Rechtsterrorismus nach 1945“ auseinandersetzt, kann hier einen wertvollen Beitrag leisten.
Rechte, rassistische und antisemitische Anschläge und Attentate sowie einschlägige Gewalttaten stellen eine dauerhafte Bedrohung insbesondere für alle Menschen dar, die in der Ideologie und im Weltbild der Täter*innen abgewertet werden. Den Betroffenen werden das Existenzrecht, die Zugehörigkeit zur Gesellschaft und der Schutz nach Artikel 1 GG abgesprochen. Rechte, rassistische und antisemitische Anschläge und Attentate sowie einschlägige Gewalttaten sind eine dauerhafte Bedrohung für den demokratischen Rechtsstaat, den die Täter*innen ablehnen und bekämpfen. Die Dimension dieser Bedrohung ist gravierend: Zehntausende Menschen waren in den vergangenen Jahrzehnten von Angriffen betroffen, deren Motive Ideologien der Ungleichwertigkeit und Feindbilder der extremen Rechten widerspiegeln: Antisemitismus, Rassismus, Queer- und Transfeindlichkeit, Sozialdarwinismus, Hass und Abwertung von Sinti* und Roma* oder von politischen Gegner*innen. Seit 1990 sind mehrere hundert Menschen rechts, rassistisch, antisemitisch, queerfeindlichen und/oder sozialdarwinistisch motivierten Tötungsdelikten zum Opfer gefallen. Bei rechtsterroristisch, antisemitisch und rassistisch motivierten Anschlägen und Tötungsdelikten starben allein im Zeitraum von 2019 bis 2023 mindestens 24 Menschen: Dr. Walter Lübcke, der langjährige CDU-Regierungspräsident von Kassel am 1. Juni 2019; Jana Lange und Kevin Schwarze beim antisemitisch, rassistisch und antifeministisch motivierten Anschlag in Halle (Saale) und Wiedersdorf an Yom Kippur 2019 sowie Ferhat Unvar, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Kaloyan Velkov, Vili Viorel Păun und Fatih Saraçoğlu bei dem rechtsterroristischen, rassistischen Attentat am 19. Februar 2020 in Hanau. Bei politisch rechts und antisemitisch motivierten Botschaftstaten starben Alexander W. am 21. September 2021 in Idar-Oberstein (Rheinland-Pfalz) und vier Mitglieder der Familie R. – darunter drei Kinder im Grundschulalter – am 4. Dezember 2021 in Senzig (Brandenburg). In den Jahren 2023 und 2024 ereigneten sich mindestens acht bis neun rechts, rassistisch oder antisemitisch motivierte Angriffe täglich in Deutschland.
3. Die Perspektive und Beteiligungsmöglichkeiten der Betroffenen stärken
Ein zentrales Anliegen des VBRG ist es, die Perspektive der Betroffenen zu stärken. In der Begründung zur Notwendigkeit der Gründung einer Stiftung NSU-Dokumentationszentrum geht der Gesetzesentwurf in seiner vorliegenden Form über den alleinigen Fokus auf den NSU-Komplex hinaus, vielmehr stellt er diesen in den Kontext einer Kontinuität rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt und rechtsterroristischer Netzwerke und Anschläge seit 1945 in Ost- wie Westdeutschland. Dieser umfassende Ansatz ist wichtig, um den NSU-Komplex in seiner historischen Dimension und ideologischen und organisatorischen Entstehungsgeschichte zu verstehen. Tatsächlich aber löst der jetzt vorliegende Gesetzentwurf den eigenen Anspruch, die Perspektive der Betroffenen und insbesondere der Hinterbliebenen und Überlebenden der NSU-Mord- und Anschlagsserie zu berücksichtigen – die oft ihr Leben lang unter den materiellen und immateriellen Tatfolgen leiden – nach wie vor nur unzulänglich nicht ein. Die Mitspracherechte sowie Entscheidungsbefugnisse und -möglichkeiten von Hinterbliebenen und Überlebenden in den Organen und in der programmatischen Ausrichtung der Stiftung sind auch in dem vorliegenden Gesetzentwurf unzureichend und müssen wesentlich gestärkt werden.
Hinterbliebene und Überlebende der NSU-Mord- und Anschlagsserie sowie Hinterbliebene und Betroffene weiterer rechtsterroristischer, antisemitischer und rassistischer Anschläge und Tötungsdelikte, die in einem bundesweiten Betroffenen- und Solidaritätsnetzwerk zusammengeschlossen sind, haben wiederholt öffentlich betont, dass sie bei zentralen Entscheidungen in Bezug auf die Stiftung NSU-Dokumentationszentrum einbezogen werden wollen. Sie fordern einen „Seat at the Table“ ein.
Dass in der vorliegenden Fassung des Gesetzentwurfs nunmehr zwei Personen aus den zwei Beiräten – der Hinterbliebenen und Wissenschaft und Zivilgesellschaft – in das beschlussfassende Gremium des Stiftungsrates gewählt werden können, ist zu begrüßen. Dies ist aber nach wie vor nicht ausreichend. Trotz dieser Erweiterung als ein Schritt in die notwendige Richtung, um die Perspektiven der Betroffenen und Hinterbliebenen angemessener einzubinden, bleibt ein eklatantes Ungleichgewicht. Wir halten an unserer Kritik fest, dass die überproportionale Vertretung staatlicher Akteure durch die hohe Anzahl an Ministerien im Stiftungsrat ein Ungleichgewicht erzeugt. Eine stärkere Gewichtung betroffenenzentrierter und zivilgesellschaftlicher Perspektiven bleibt aus unserer Sicht erforderlich, um eine ausgewogene und wirksame Arbeit der Stiftung zu gewährleisten.
Es muss erneut darauf hingewiesen werden, dass sich im NSU-Komplex ein institutioneller Rassismus sowie die Dysfunktion staatlicher Behörden und Institutionen des Rechtsstaats widerspiegeln – insbesondere gegenüber den Betroffenen. Die Ermordeten und ihre Angehörigen sowie die Überlebenden und Verletzten der Sprengstoffanschläge wurden über Jahre hinweg kriminalisiert, nicht ernst genommen und der Täterschaft bezichtigt. Diese strukturelle Diskriminierung darf sich nicht auch noch in der Zusammensetzung und Mitbestimmungsmöglichkeiten und -rechte innerhalb der Stiftung fortsetzen. Vielmehr ist als Bedingung für das Gelingen eines Dokumentationszentrums und für die breite Akzeptanz des Vorhabens, die Einbindung der Betroffenen auf Augenhöhe und gleichberechtigt zwingend erforderlich. Eine Missachtung dieses Grundprinzips könnte von Betroffenen als „gegen sie“ interpretiert werden – und die bisherigen Erfahrungen mit staatlichen Institutionen fortsetzen, die einhergingen mit Enttäuschungen und mehrfacher Viktimisierung.
Ein weiteres wichtiges Anliegen betrifft die besondere Belastung und Vulnerabilität der Betroffenen und Hinterbliebenen. Das bisherige Engagement der Betroffenen ist gekennzeichnet durch ein hohes Ausmaß von ehrenamtlichen Tätigkeiten. Um ihnen eine Fortsetzung ihrer Aufklärungsarbeit innerhalb der Stiftung NSU-Dokumentationszentrum zu ermöglichen, sollte eine angemessene Aufwandsentschädigung im Gesetzentwurf verankert werden.
Wir begrüßen es daher, dass der aktuelle Gesetzentwurf klarstellt, dass auch die Mitglieder der Stiftungsbeiräte gemäß § 12 Anspruch auf die Vergütung entstandener Auslagen und Aufwendungen haben. Diese Regelung ist ein wichtiger Schritt, um die Arbeit der Beiratsmitglieder zu würdigen und ihnen eine aktive Teilnahme zu ermöglichen, ohne dass sie finanzielle Nachteile befürchten müssen.
4. Ein Fonds zur materiellen Entschädigung als weiterer Stiftungszweck
Die zukünftige Stiftung und das Stiftungsgesetz müssen als weiteren Stiftungszweck einen Fonds zur materiellen Entschädigung aufnehmen. Die bestehenden Lücken im Sozialen Entschädigungsrecht (SER) benachteiligen und belasten die Hinterbliebenen und Geschädigten der NSU-Mord-, Anschlags- und Raubüberfallserie existenziell. Durch die Erweiterung des Stiftungszwecks und des Gesetzentwurfs um Entschädigungsfonds könnten existenzielle Versorgungslücken für Hinterbliebene und Geschädigte endlich geschlossen werden. Aus der Beratungsarbeit der Opferberatungsstellen nach rechtsterroristischen Anschlägen wissen wir, dass das Soziale Entschädigungsrecht (SER) – OEG und SGB XIV – die Hinterbliebenen und Geschädigten der Mord-, Anschlags- und Raubüberfallserie des NSU-Netzwerks massiv benachteiligt und viele Betroffene unter den erheblichen Versorgungslücken leiden. Diese materiellen Tatfolgen und die damit einhergehenden Erfahrungen von sekundärer Viktimisierung und unverschuldeten Notlagen sind vom Gesetzgeber bislang nicht berücksichtigt worden. Das selbstorganisierte „Solidaritätsnetzwerk Betroffener rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt“ und der VBRG e.V. fordern deshalb schon seit Langem eine bedingungslose und bedarfsorientierte Grundrente für Hinterbliebene und Überlebende, um ein Leben in Würde zu ermöglichen.
Die geplante Stiftung sollte diese bestehenden Lücken durch einen Fonds zur materiellen Entschädigung als weiteren Stiftungszweck schließen. Eine adäquate finanzielle Ausstattung des Fonds muss der Gesetzgeber entsprechend berücksichtigen.
5. Absicherung des Gremiums vor rechtsextremen Akteuren
Ein weiterer zentraler Punkt betrifft den Schutz des Stiftungsrats (§ 7) sowie dessen Mitglieder – insbesondere die Betroffenen und Hinterbliebenen – vor rechtsextremen Einflussnahmen. Die demokratische Kontrolle des Stiftungsrats ist von enormer Bedeutung für die Glaubwürdigkeit der zu errichtenden Stiftung sowie für diejenigen, die sich seit vielen Jahren für eine aktive Aufarbeitung einsetzten – insbesondere für die Betroffenen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalttaten. Wir begrüßen es ausdrücklich, dass auch Mitglieder des Bundestages in dem Organ eingebunden sind. Gleichzeitig möchten wir betonen, dass auch diese Stiftung sich mit einem besonders sensiblen Thema der bundesdeutschen Geschichte auseinandersetzt und entsprechend in besonderer Weise Schutz vor rechtsextremen und antisemitischen Akteuren bedarf. Die Stiftung legt den Grundstein für die Errichtung und Ausgestaltung des Dokumentationszentrums, dessen Ziel unter anderem auch ist, die strukturellen Ursachen für das Scheitern der Ermittlungsbehörden im NSU-Komplex darzulegen und aufzuarbeiten. Die Taten ereigneten sich vor dem Hintergrund institutionell rassistischer Verhältnisse in den Behörden und Ämter. Die Betroffenen fordern in der Aufarbeitung durch die Stiftung und das Dokumentationszentrum eine entsprechende (selbst-)kritische Haltung. Diese Anforderung wäre durch rechtsextreme und antisemitische Akteur*innen als Teil des Stiftungsrats gefährdet.
Um die Unabhängigkeit und Integrität der Stiftung zu gewährleisten, schlagen wir daher vor, dass Parteien wie die AfD, bei denen Gerichte feststellen, dass ihre politischen Zielsetzungen „auch beinhalten, den Schutz der Menschenwürde außer Geltung zu setzen“ (OVG NRW, Urteil vom 13. Mai 2024, – 5 A 1218/22 -) und/oder vom Verfassungsschutz als rechtsextremistischer Verdachtsfall oder als gesichert rechtsextrem eingestuft werden, keine Vertreterinnen und Vertreter in den Stiftungsrat entsenden dürfen. Dies ist notwendig, um sicherzustellen, dass die Stiftung ihrem Auftrag gerecht werden kann, ohne von rechten, rassistischen oder antisemitischen Kräften beeinflusst oder untergraben zu werden. Die Errichtung der „Stiftung NSU-Dokumentationszentrum“ erfordert ein klares Bekenntnis zu den Grundwerten des Grundgesetzes, der Demokratie sowie des gesellschaftlichen Pluralismus.
6. Das Prinzip der Mehrortigkeit
Wie in der Machbarkeitsstudie des RAA Sachsen e.V.[1] sowie in der Machbarkeitsstudie der Bundeszentrale für politische Bildung[2], herausgearbeitet wurde, ist der NSU-Komplex vielschichtig und erstreckt sich über verschiedene Tatorte in der gesamten Bundesrepublik. Um dieser Mehrortigkeit gerecht zu werden, bedarf es eines Verbundsystems aus mehreren dezentralen Standorten. Diese Notwendigkeit wurde auch in der im Frühjahr 2024 vom Bundesministerium des Innern in Auftrag gegebenen Studie der Bundeszentrale für politische Bildung bestätigt. Darin heißt es: „Einigkeit herrscht jedoch darin, dass in einer dezentralen Verbundstruktur die verschiedenen Erinnerungsorte und Aufarbeitungsinitiativen am ehesten gesichert und unterstützt werden können.“
Um den NSU-Komplex im Kontext rechtsterroristischer Straftaten und Gewaltverbrechen seit 1945 sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland einzuordnen, muss diese Mehrstandortigkeit und Verbundstruktur klar im Stiftungszweck (§ 2) sowie im § 1 Einrichtung und Sitz der Stiftung (hier §1 (2)) verankert werden. Im Stiftungszweck (§ 2) muss darüber hinaus festgehalten werden, dass die Stiftung lokale Strukturen fördern und unterstützen darf, um eine vielfältige und pluralistische Erinnerungs- und Aufklärungsarbeit zu gewährleisten. Folgerichtig darf die Tätigkeit der Stiftung nicht allein in Berlin stattfinden. Vielmehr muss sie über mehrere Standorte verfügen können, die in verschiedenen Regionen der Bundesrepublik verteilt sind, um die historischen Zusammenhänge und die lokalen Gegebenheiten der Tatorte sichtbar zu machen.
Wir begrüßen, dass die Bestimmungen zur Erfüllung der Stiftungszwecke (§ 3 Punkt 2) sowie die Problem- und Zielbeschreibung dahingehend geschärft wurden, dass deutlicher wird, wie die Stiftung durch eigene Maßnahmen oder finanzielle Förderung tätig werden kann. Dies bietet die Chance, lokale und regionale Initiativen zu stärken, die sich der Gedenk- und Erinnerungsarbeit widmen.
7. Perspektive Ostdeutschland
Im Gesetzentwurf zur Stiftung wird richtigerweise auch auf die massive rechte, rassistische und antisemitische Gewalt seit der Wiedervereinigung eingegangen. Hier muss insbesondere die dezidierte Perspektive auf Ostdeutschland gestärkt werden. Zu den einschlägigen Stichworten zählen die „Baseballschlägerjahre“ und das Jahrzehnt der Brandanschläge sowie der Hinweis, dass das NSU-Kerntrio und seine engsten Unterstützer*innen überwiegend in Thüringen und Sachsen lebten und von dort aus ihre rechtsterroristischen Anschläge und Verbrechen planen konnten, ohne dass Strafverfolgungsbehörden, Justiz oder Verfassungsschutzbehörden mit adäquaten Maßnahmen auf die vorliegenden Informationen zu den rechtsterroristischen Aktivitäten des NSU-Netzwerks und dem Aufenthaltsorten den NSU-Kerntrios reagierten. Die spezifischen Ausgangsbedingungen in Ostdeutschland, die den Terror des NSU-Netzwerks und weiterer rechtsterroristischer Netzwerke und Gruppen ermöglich(t)en, müssen sich auch in den Aktivitäten der Stiftung und des Dokumentationszentrums widerspiegeln. Es ist essenziell, dass die Stiftung die Auseinandersetzung mit der rechtsextremen, rassistischen und antisemitischen Gewalt nach der Wiedervereinigung in den ostdeutschen Bundesländern kritisch bilanziert, ihre Aufarbeitung intensiviert und für diese Region spezifische Bildungs- und Erinnerungsangebote entwickelt.
Die Möglichkeit, dass die Stiftung an verschiedenen Orten tätig werden kann, ist daher ausdrücklich zu begrüßen. Dennoch ist es eine verfrühte Festlegung im Gesetz, wenn hier der Gesetzgeber Berlin zum Standort für das zentrale Dokumentationszentrum bestimmt. Vielmehr sollte diese Entscheidung durch einen Abstimmungsprozess innerhalb der Gremien der Stiftung erfolgen. Damit würden mehr Perspektiven bei der Standortwahl berücksichtigt.
Es sei darauf hingewiesen, dass es bereits ein Pilotdokumentationszentrum in Chemnitz existiert, das im Mai dieses Jahres eröffnet wird. Dieses Zentrum hat Vorbildcharakter: hier wird kontinuierlich mit Betroffenen und Hinterbliebenen zusammengearbeitet, um deren Perspektiven einzubeziehen. Es wäre eine Chance, die Erfahrungen des Pilotdokumentationszentrums auch in der Entscheidung für die Standortfrage stärker zu berücksichtigen.
8. Jugendbeteiligung durch Jugendbeirat
In unserer Stellungnahme vom 9. Oktober 2023 zum damals vorliegenden Gesetzentwurf haben wir bereits betont, wie wichtig die Einbindung junger Menschen in die Arbeit der Stiftung ist. Jugendliche und junge Erwachsene haben eine entscheidende Rolle in der Weiterentwicklung der Erinnerungskultur und der Prävention von Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus.
Aus der Forschung sowie den Jahresbilanzen zum Ausmaß rechter Gewalt des VBRG wissen wir, dass rechte, rassistische und antisemitische Gewalt insbesondere auch Kinder und Jugendliche betrifft[3]. Jugendliche werden immer wieder Opfer dieser Form von Gewalt und müssen sich sowohl mit den direkten physischen und psychischen Folgen als auch mit der gesellschaftlichen Aufarbeitung auseinandersetzen. Hinzukommt, dass insbesondere auch Kinder sowie Jugendliche besonders darunter leiden, wenn ihre Eltern oder Familienmitglieder selbst von rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt betroffen sind.
Vor diesem Hintergrund schlagen wir vor, neben den bereits vorgesehenen Stiftungsbeiräten (§ 7) einen dritten Beirat hinzuzufügen, der als Jugendbeirat organisiert wird. Dieser Beirat soll acht Jugendlichen im Alter von 14 bis 27 Jahren offenstehen. Der Besetzung muss ein Diversitätsanspruch zugrunde liegen, wobei vier der Sitze gezielt an Jugendverbände vergeben werden, insbesondere auch an solche, die sich aus Migrant*innenselbstorganisationen zusammensetzen.
Ein demokratisches Miteinander muss auch die Perspektiven junger Menschen berücksichtigen. Die Einbindung der Jugendlichen und ihrer spezifischen Perspektive ist von unschätzbarem Wert für die Stiftung „NSU-Dokumentationszentrum“ und folgt damit der UN-Kinderrechtskonvention, die seit 1992 in Deutschland in Kraft ist. Jugendliche können wichtige Impulse dafür geben, welche neuen oder alternativen Formate notwendig sind, um eine jüngere Zielgruppe anzusprechen und für das Thema zu sensibilisieren[4]. Daher ist es essenziell, diese Perspektive im Stiftungsrat adäquat abzubilden. Der oder die Vorsitzende des Jugendbeirats soll ein volles Stimmrecht im Stiftungsrat erhalten, um sicherzustellen, dass die jugendliche Perspektive auch in den zentralen Entscheidungen der Stiftung berücksichtigt wird.
9. Fazit
Der Verband der Beratungsstellen begrüßt die Errichtung der Stiftung NSU-Dokumentationszentrum ausdrücklich. Eine Stiftung, die sich nachhaltig mit rechter Gewalt auseinandersetzt, kann nur erfolgreich sein, wenn die Perspektiven derjenigen, die am meisten betroffen sind, im Zentrum der Entscheidungen stehen. Die Stiftung sollte zudem um einen Fonds zur materiellen Entschädigung erweitert werden, um gravierende Lücken im Sozialen Entschädigungsrecht, die zur erheblichen Benachteiligung der Hinterbliebenen und Geschädigten und materiellen Notlagen führen, zu schließen. Ferner betonen wir die Notwendigkeit, neben der Stärkung der Betroffenenperspektive auch die Absicherung des Gremiums vor rechtsextremistischen Akteuren und Einflussnahme sicherzustellen. Nur durch eine klare Abgrenzung gegen rechtsextreme Einflüsse kann die Stiftung langfristig glaubwürdig und wirksam arbeiten. Desweiteren plädieren wir für die stärkere Einbindung von Jugendlichen mit einem eigenen Beirat als wesentliche Baustein, um die Arbeit der Stiftung nachhaltig, inklusiv und zukunftsorientiert zu gestalten. Zudem muss die zukünftige Stiftung die Möglichkeit eröffnen, lokale Strukturen zu fördern und zu unterstützen, um eine vielfältige und pluralistische Erinnerungs- und Aufklärungsarbeit zu gewährleisten.
Fußnoten:
[1] Konzeptions und Machbarkeitsstudie für ein Dokumentationszentrum zum NSU Komplex in Südwessachsen (2023: https://www.nsudoku.de/raa-sachsen/files/Studie-Dokumentationszentrum-RAA-2023-Web.pdf.
[2] Machbarkeitsstudie, Erichtung eines Erinnerungsortes sowie eines Dokumentationszentrums für die Opfer des NSU (2024): https://www.bpb.de/die-bpb/presse/pressemitteilungen/545993/erinnerungsort-und-dokumentationszentrum-zum-terror-des-nationalsozialistischen-untergrunds/.
[3] Jahresstatistiken rechte, rassistische und antisemitische Gewalt des VBRG: https://verband-brg.de/rechte-rassistische-und-antisemitische-gewalt-in-deutschland-2023-jahresbilanzen-der-opferberatungsstellen/
[4] Auf die besondere Bedeutung von Jugendlichen als Zielgruppe eines zukünftigen NSU Dokumentationszentrum wird in beiden Machbarkeitsstudien explizit verwiesen. Verweis zu den Studien, siehe Fußnoten 1 und 2.
Download: Stellungnahme des VBRG als PDF