Es braucht konsequente Strafverfolgung, Solidarität und materielle Konsequenzen– statt Sonntagsreden und gebrochene Versprechen!

„10 Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU in Eisenbach bleiben nach wie vor viele Fragen offen. Die Politik versprach uns Familien eine vollständige Aufklärung, der sie leider nicht nachkamen. Für mich ist die Aufklärung nicht zu Ende. Auch das Urteil des Oberlandesgerichts München hat meine Fragen nicht beantwortet. Ich möchte immer noch wissen, wer für den Mord an meinem Vater verantwortlich ist. Es geht nicht nur darum, wer selbst geschossen hat, sondern auch darum, wer Unterstützer, Helfer oder weiterer Mörder war. Ich will wissen, welche Helfer der NSU in Dortmund und anderswo hatte. Ich will wissen, warum die Morde und Anschläge nicht verhindert wurden. Ich will wissen, was Polizei und Verfassungsschutz wussten und warum deren Spitzel bis heute geschützt werden. Ich möchte, dass die NSU-Akten den Anwälten übergeben werden. Und ich hoffe, dass zumindest das Urteil gegen André Eminger aufgehoben wird und er als volles Mitglied des NSU auch für das verurteilt wird, was er getan hat. Solange eine 100-prozentige Aufklärung nicht wenigstens versucht wurde, kann und werde ich damit nicht abschließen können.“

Gamze Kubaşık, Tochter des am 4. April 2006 in Dortmund ermordeten dreifachen Vaters und Kioskbesitzers Mehmet Kubaşık (39) im November 2021.

Die Familien von Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides. Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter haben seit dem 4. November 2011 die traurige Gewissheit: Ihre Väter, Ehepartner, Söhne und Tochter sind von einem rechtsterroristischen Neonazi-Netzwerk ermordet worden, das sich als „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) bezeichnet. Mit den rassistischen Morden und mindestens drei Sprengstoffattentaten sollten alle Menschen mit Flucht- und Migrationserfahrungen terrorisiert, in Angst und Schrecken zu versetzt und ihnen jegliches Gefühl von Sicherheit und Zugehörigkeit geraubt werden.

„Elf Jahre lang durften wir nicht einmal reinen Gewissens Opfer sein. Können Sie erahnen, wie es sich für mich als Kind angefühlt hat, sowohl meinen toten Vater als auch meine schon ohnehin betroffene Mutter unter Verdacht zu sehen?“

Semiya Şimşek, Tochter des am 9. September 2000 in Nürnberg ermordeten zweifachen Vaters und Blumengroßhändlers Enver Şimşek (38) bei der nationalen Gedenkfeier in Berlin im Februar 2012.

„Vögeler hat mir sehr weh getan. Wie will er das je wieder gut machen?“

Adile Şimşek, Ehefrau des am 9. September 2000 in Nürnberg ermordeten zweifachen Vaters und Blumengroßhändlers Enver Şimşek (38) über den Ermittlungsbeamten der „BAO Bosporus“, der sie und ihre Kinder über Jahre quälenden Vernehmungen und Verdächtigungen aussetzte.

Mit den Überlebenden und Betroffenen der rassistischen Sprengstoffattentate des rechtsterroristischen Neonazi-Netzwerks am 13. September 1999 im Café Sonnenschein in Nürnberg, am 19. Januar 2001 im Lebensmittelgeschäft einer iranischstämmigen Familie in der Propsteigasse in Köln und den Verletzten und Überlebenden des Nagelbombenattentats am 14. Juni 2004 in der Keupstraße teilen die Familien der Ermordeten die schreckliche Erfahrung der „Bombe nach der Bombe“: Die jahrelange Kriminalisierung und Stigmatisierung durch rassistische Ermittlungspraktiken durch Polizei und Staatsanwaltschaften aller Tatortbundesländer und des BKA.

„Mein Vater war kein Döner, er war ein Mensch. Ja es geht hier um Menschen, die umgebracht worden sind.“

Abdulkerim Şimşek, Sohn des am 9. September 2000 in Nürnberg ermordeten zweifachen Vaters und Blumengroßhändlers Enver Şimşek (38).

Die Hinterbliebenen, Überlebenden und Betroffenen der rechtsterroristischen NSU-Mord- und Anschlagsserie teilen die Erfahrung, dass Medien und Zivilgesellschaft den von institutionellem Rassismus geleiteten Strafverfolgungsbehörden unhinterfragt Glauben geschenkt, den Überlebenden und Hinterbliebenen nicht zugehört haben und dazu beitrugen, dass Hinterbliebene und Überlebende gesellschaftlich isoliert und abgeschnitten von Unterstützung waren.

„Dieser Mann, Herr Temme, lügt.“

Ismail Yozgat, Vater des am 6. April 2006 in Kassel ermordeten Internetcafé-Betreibers Halit Yozgat (21) am 106. Verhandlungstag im NSU-Prozess am OLG München.

Die Hinterbliebenen, Überlebenden und Betroffenen der rechtsterroristischen NSU-Mord- und Anschlagsserie teilen die Erfahrung, dass Beamte in Verfassungsschutzämtern des Bundes und der Länder, Behördenleiter*innen und politisch Verantwortliche straflos Akten und andere Beweismittel zu der Frage vernichten konnten: Wie groß ist das Ausmaß der staatlichen Verantwortung für die Terrorserie des NSU durch das Neonazi-V-Leute System und das geheimdienstliche System des „Quellenschutzes vor Strafverfolgung“, mit dem Neonazi-V-Leute und ihre V-Mann-Führer bis heute geschützt werden.

Die Hinterbliebenen, Überlebenden und Betroffenen der rechtsterroristischen NSU-Mord- und Anschlagsserie teilen das Wissen, dass Polizei, Justiz und Verfassungsschutzämter in Thüringen, Sachsen und Brandenburg spätestens ab 1998 über die Pläne, Bewaffnung, Sprengstoffbesitz, Wohnorte und Waffensuche sowie von der Gefährlichkeit und ersten Überfällen des rechtsterroristischen Neonazinetzwerks informiert waren und der „Nationalsozialistische Untergrund“ dennoch nicht gestoppt wurde.

„Nichts ist aufgeklärt. Wir haben immer noch dieselben Fragen wie damals. Warum mussten unsere Väter sterben? Warum gerade sie? Es ist kein Trio, es gibt viele Helfershelfer. Und ich verstehe den Staat nicht, warum er da nicht ermittelt, warum er sie nicht bestraft. Warum möchte er immer noch blind bleiben? Wir wissen, dass es sie gibt. Deutschland tut so, als würde der NSU nur aus drei Menschen bestehen. Deutschland tut so, als hätte es kein Problem mit Rechts. Ich als Tochter möchte wissen, warum ausgerechnet mein Vater? Nach welchen Kriterien wurde er denn ausgesucht? War das nur Zufall? Für mich gibt es keinen Schlussstrich.“

Semiya Şimşek, Tochter des am 9. September 2000 in Nürnberg ermordeten zweifachen Vaters und Blumengroßhändlers Enver Şimşek (38) im Oktober 2021.

Die Hinterbliebenen, Überlebenden und Betroffenen der rechtsterroristischen NSU-Mord- und Anschlagsserie sind damit konfrontiert, dass der Generalbundesanwalt seit 10 Jahren keine Anklage gegen neun Neonazi-Helfer*innen und Unterstützer*innen des NSU-Kerntrios wegen „Unterstützung einer terroristischen Vereinigung“ nach §129a StGB erhebt, obwohl die Neonazis die Mord- und Anschlagsserie durch Waffen, Sprengstoff, Wohnungen, Alias-Identitäten und Geld erst möglich gemacht haben. Sie sind auch damit konfrontiert, dass Ausspähnotizen und Adresslisten von Anschlagszielen deutlich machen: Es gibt Neonazi-Helfer und Helfer*innen des Neonazi-Terrornetzwerks in allen Tatortstädten, die straflos bleiben.

Wir erwarten, dass die Bundesregierung und die jeweiligen Landesregierungen der NSU-Kern- und Tatort-Länder die Forderungen der Hinterbliebenen und Überlebenden der rassistischen, rechtsterroristischen Mord- und Anschlagsserie des NSU nach umfassender Aufklärung, Gerechtigkeit und Konsequenzen endlich erfüllen.

Statt Sonntagsreden und gebrochener Versprechen braucht es materielle Veränderungen und Solidarität!

Ein zweiter NSU-Untersuchungsausschuss im Bayrischen Landtag sowie Untersuchungsausschüsse in Hamburg und Berlin müssen die Fragen nach Helfer*innen des NSU-Netzwerks, dem Wissen der Behörden über das NSU-Netzwerk und institutionellen Rassismus bei Polizei und Staatsanwaltschaften umfassend untersuchen.

Die Generalbundesanwaltschaft muss die vorherrschende Straffreiheit für Unterstützer*innen rechtsterroristischer Netzwerke durch umfassende Ermittlungen und Anklageerhebung gegen die neun bekannten NSU-Unterstützer*innen beenden.

Die NSU-Mord- und Anschlagsserie muss verpflichtend in der Ausbildung für angehende Polizist*innen, Staatsanwält*innen und Richter*innen behandelt und als Pflichtmodul in den Lehrplänen juristischer Fakultäten und Polizeihochschulen ebenso wie eine Auseinandersetzung mit institutionellem Rassismus und Antisemitismus verankert werden.

Die Hessische Landregierung muss die bis 2034 gesperrten Geheimakten über Neonazi-V-Leute den Anwält*innen der Hinterbliebenen und Überlebenden der NSU-Mordserie und der Familie von Walter Lübcke sowie Ahmed I. zugänglich machen und übergeben.

Der Gesetzgeber muss die Voraussetzungen für eine unbürokratische Grundrente mit einer adäquaten Existenzsicherung für Überlebende, Hinterbliebene und Verletzte schwerer rassistischer, antisemitischer und rechtsterroristischer Gewalttaten schaffen. Die Unterstützung durch den Opferbeauftragten der Bundesregierung und das Bundesamt für Justiz haben zwar wichtige Signalwirkung, aber sie bieten keine langfristige existenzsichernde Perspektive für ein Leben nach traumatischer Gewalterfahrung in Würde.

Alle durch Neonazi-V-Leute Verletzten und Geschädigten müssen durch das Bundesamt für Verfassungsschutz und die Landesämter für Verfassungsschutz entschädigt werden.

Statt Sonntagsreden und gebrochener Versprechen braucht es materielle Veränderungen und Solidarität!