ReachOut, die Berliner Beratungsstelle für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt, verzeichnet mit 336 Angriffen für das Jahr 2022 fast genauso viele Taten wie im Jahr zuvor (353 Angriffe). Mindestens 490 Menschen wurden im vergangenen Jahr verletzt und bedroht. Die Zahl der Angriffe bleibt damit seit Jahren nahezu konstant erschreckend hoch.
Berlin, 4. Mai 2023
Insgesamt erfasst ReachOut 336 Angriffe für das Jahr 2022 (2021: 353). Mindestens 490 Menschen wurden verletzt, massiv bedroht, gejagt und bespuckt. Unter den Opfern sind 38 Kinder und 45 Jugendliche. Dazu kommen 21 Kinder, die dabei waren, als ihre erwachsenen Begleitpersonen geschlagen und gedemütigt wurden.
Sabine Seyb, Mitarbeiterin von ReachOut, fasst die Angriffssituation im vergangenen Jahr zusammen: “Erschreckend ist, dass nach unseren Erkenntnissen, die meisten Angriffe im öffentlichen Raum, in öffentlichen Verkehrsmitteln und Haltestellen stattfinden. Überall dort also, wo Passant*innen und Mitfahrende helfen könnten. Unsere Recherchen und die Gespräche mit den Betroffenen zeigen jedoch, dass ihnen meistens niemand zur Hilfe kommt. Die Gleichgültigkeit, manchmal vielleicht die heimliche oder offene Zustimmung der Unbeteiligten ist für die Opfer mindestens genauso verletzend und schmerzhaft, wie die körperlichen Wunden, die sie davontragen.”
Beispiele aus unserer Chronik:
Am 4. August 2022 steigt eine Frau gegen 21.30 Uhr in Moabit in einen Bus der Linie 187. Ein vor ihr sitzender, unbekannter Mann dreht sich um, spuckt ihr unvermittelt ins Gesicht und beleidigt sie aus LGBTIQ*-feindlicher Motivation. Weder der Busfahrer noch andere Fahrgäste, kommen der Frau zur Hilfe.
Auch, als die damals 17- jährige Dilan S. am 5. Februar 2022 in Prenzlauer Berg gegen 20.10 Uhr von sechs erwachsenen Männern und Frauen rassistisch motiviert geschlagen und getreten wird, kommt ihr niemand zur Hilfe. Wie entscheidend es für den Verlauf eines Angriffs sein kann, wenn Passant*innen eingreifen, zeigt dieses Beispiel:
Am 6. August wird ein 58-jähriger Radfahrer, der an einer Ampel wartet, von einem unbekannten Mann bedrängt und antisemitisch beleidigt. Der 58-Jährige wird bedroht und ihm werden seine Kippa und dabei auch Haare vom Kopf gerissen. Der Betroffene erleidet Verletzungen durch mehrere Schläge gegen den Kopf und ins Gesicht. Erst durch das Eingreifen eines Zeugen gelingt es dem Betroffenen, sich von der Fahrbahn in Sicherheit zu bringen.
Mit 198 Taten sind fast 60% der Angriffe rassistisch motiviert (2021: 219/60% von 353). Von den insgesamt 198 rassistisch motivierten Taten wissen wir, dass mindestens 13 Angriffe antimuslimisch motiviert waren, sich 6 gegen Rom*nja und Sintezz*a und 31 gegen Schwarze Menschen richteten.
57 Taten wurden aus LGBTIQ*-feindlichen Motiven begangen (2021: 47). Hier beobachten wir trotz des leichten Rückgangs der Angriffszahlen insgesamt, einen Anstieg. Die antisemitischen Gewalttaten sind mit 25 nahezu gleich geblieben (2021: 24). Die Zahl der Attacken und massiven Bedrohungen gegen politische Gegner*innen ist mit 28 Angriffen beinahe unverändert (2021: 27). Zudem erfuhr ReachOut von 16 Bedrohungen und Angriffen gegen Journalist*innen. Gegen obdachlose Menschen richteten sich 8 Gewalttaten.
Bei den meisten Angriffen handelt es sich um Körperverletzungen (187), gefährliche Körperverletzungen (87) und massive Bedrohungen (39). Zudem mussten wir 10 Brandstiftungen und 3 schwere Körperverletzungen dokumentieren:
Ein Beispiel:
Am 30. Mai 2022 wird in Friedrichshain auf ein linkes Hausprojekt in der Grünberger Straße morgens zwischen 5.00 und 6.00 Uhr ein Brandanschlag verübt. Das Feuer wird am Müllhaus im Hof gelegt und die Flammen reichen bis zum dritten Stock des Hauses. Im Hausflur wird eine zweite Brandquelle entdeckt, die nicht gezündet hat. In der Vergangenheit haben Hausbewohner*innen Schmierereien der Identitären im Hof entdeckt.
Die meisten Angriffe werden in den innerstädtischen Bezirken verübt. Im Bezirk Mitte finden insgesamt 72 (2021: 61) und somit stadtweit die meisten Angriffe statt. Trotz des leichten Rückgangs der Angriffszahlen in ganz Berlin, hat es hier einen weiteren Anstieg gegeben. Die Gewalttaten und massiven Bedrohungen in Friedrichshain-Kreuzberg sind von 55 auf 38 gesunken. Davon sind 17 Angriffe rassistisch motiviert, 10 Angriffe richten sich dort gegen die sexuelle Identität oder Orientierung der Betroffenen und 5 Angriffe haben ein antisemitisches Motiv.
Weitere Angriffsschwerpunkte dokumentieren wir in den Bezirken Pankow (33), Charlottenburg-Wilmersdorf (30), Treptow-Köpenick (27) und Lichtenberg (26). Häufigstes Tatmotiv in diesen Bezirken: Rassismus. In Neukölln dokumentiert ReachOut mit 22 Angriffen (2021: 36) einen Rückgang. Häufigstes Motiv: Die sexuelle Identität oder Orientierung der Betroffenen (13). Trotz des Rückgangs der Angriffszahlen in Neukölln, gibt es keinen Grund zur Entwarnung. Die Neuköllner Anschlagserie ist nach wie vor nicht aufgeklärt. Auch der Mörder von Burak Bektaş wurde nicht ermittelt. Die Hauptverhandlung, in der im Dezember 2022 gegen Thilo Paulenz und Sebastian Thom das Urteil gesprochen wurde, war “von Beginn an eine Farce und zum Scheitern verurteilt”, so die Bewertung der Nebenklage. Die Betroffenen und ihre Unterstützer*innen wundert das nicht. Denn auch in diesem Verfahren ging die Berliner Justiz von Einzeltäter*innen aus. Deren Netzwerke, um die es eigentlich gehen müsste, um die Opfer wirklich zu schützen, wurden nicht thematisiert.
Der parlamentarische Untersuchungsausschuss zu Neukölln, muss sofort wieder eingesetzt werden. Auch hier gilt: Einzeltäter*innenthesen tragen nicht zur Auklärung bei. Akten und Informationen dürfen nicht länger vorenthalten werden. Außerdem muss die Öffentlichkeit den Untersuchungsausschuss beobachten können – nicht nur über Bildschirme. Wir unterstützen die Betroffenen in ihrer Forderung nach einer umfassenden Aufklärung der Anschlagserie und nach den Konsequenzen für Ermittlungsbehörden und Justiz.
Das Gesamtbild und die Entwicklung der Angriffszahlen zeigt: “Insbesondere die rassistisch motivierten Angriffe geschehen täglich und bleiben zahlenmäßig auf einem besorgniserregend hohen Niveau. Zudem gehen wir davon aus, dass wir nur einen Teil von dem erfahren, was rassismusbetroffene Menschen in Berlin tatsächlich ertragen müssen”, so Sabine Seyb.
Seitdem ReachOut keine Informationen mehr von den Ermittlungsbehörden erhalten darf und nur ein geringer Teil der angezeigten Gewalttaten als Polizeipressemeldungen erscheinen, ist davon auszugehen, dass sehr viele der extrem rechten, rassistischen und antisemitischen Gewalttaten der Öffentlichkeit nicht bekannt werden. Das hat Folgen, auch für die Betroffenen. Denn die Erarbeitung von Gegenstrategien in den Bezirken, die die konkrete Situation zur Grundlage haben, werden eingeschränkt.
“Unsere Arbeit als Monitoringstelle wird zur Zeit enorm erschwert. Auch die Antworten auf Kleine Anfragen im Abgeordnetenhaus zur ‘politisch motivierten Kriminalität rechts’ enthalten nicht die Informationen, die wir für eine umfassende Auswertung der Angriffssituation benötigen.”, so Sabine Seyb.
Deswegen fordert ReachOut, dass die zur Zeit übliche Praxis geändert wird, damit ReachOut möglichst viele Betroffene zeitnah erreichen und ein aussagekräftiges Monitoring auch in Zukunft gewährleisten kann. Möglich wäre das, wenn zumindest zu allen Gewaltstraftaten, die dem Bereich (“politisch motivierte Kriminalität rechts”) zugeordnet werden, eine Pressemeldung von der Polizei herausgegeben wird.
Institutioneller Rassismus und die Arbeit von ReachOut
ReachOut wünscht sich, dass die im Koalitionsvertrag vereinbarte Enquete-Kommission gegen Rassismus und Diskriminierung im Berliner Abgeordnetenhaus noch vor der Sommerpause eingesetzt wird.
“Dies würde eine langfristige Auseinandersetzung mit jeder Form von Rassismus auf allen Ebenen ermöglichen. Und vielleicht würden dann rassistische Äußerungen, insbesondere von Politiker*innen, wie beispielsweise im Zusammenhang mit der rassistisch aufgeheizten Debatte um die Geschehnissse in der Silvesternacht, entschiedener verurteilt und unterbunden. (https://www.reachoutberlin.de/de/Aktuelles/Ver%C3%B6ffentlichungen/
Pressemitteilung/Pressemitteilung%20Sylvesternacht/)
Diese Kommission sollte institutionellen Rassismus ernsthaft in den Blick nehmen und Gegenmaßnahmen beschließen”, so Sabine Seyb. Bei der Entwicklung von Handlungsstrategien und deren Umsetzung sei die Einbeziehung von Initiativen und Vereinen aus den diversen Communities unumgänglich, betont die Vertreterin von ReachOut.
Weil institutioneller Rassismus und rassistische Gewalt und Bedrohung miteinander verknüpft sind, arbeitet ReachOut in beiden Handlungsfeldern. So sind die Angriffe, die Kinder und Jugendliche im Kontext Schule erleiden müssen, ein wichtiges Thema in der Beratung von ReachOut. Häufig handelt es sich um rassistisches Mobbing. Die Folgen für die Betroffenen sind schwerwiegend, weil sich Schulen und Kitas als staatliche Einrichtungen nicht umgehen lassen.
Häufig sind Kinder und Jugendliche den gewaltvollen Erlebnissen schutzlos ausgeliefert. Eltern fürchten Konsequenzen für ihre Kinder, wenn sie sich wehren. Schulleitungen, Lehrende und politisch Verantwortliche positionieren sich zu selten auf der Seite der Betroffenen. Vielmehr wird das Problem allzu oft bagatellisiert und verschwiegen.
Ganze Familien werden so traumatisiert. Der einzige Ausweg ist dann meistens ein Schulwechsel, den nicht etwa die Täter*innen (Lehrende und /oder Schüler*innen) vornehmen müssen, sondern die Opfer. Ein Anfang wäre es, unabhängige Beschwerdestellen in allen Berliner Bezirken für den Bereich Schule und Kita einzurichten. Dies sollte nach dem Vorbild der Anlauf- und Fachstelle für Diskriminierungsschutz an Schulen und Kitas in Friedrichshain-Kreuzberg passieren.
Rassismus und andere Formen physischer und psychischer Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen kann lebenslange Folgen haben und muss beendet werden. Weitere Einzelheiten zu den Angriffszahlen entnehmen Sie bitte der Pressemappe, den darin enthaltenen Grafiken und der Tabelle “Rechte, rassistische und antisemitische Angriffe in Berlin“. In der Tabelle geben wir einen Rückblick auf die Entwicklungen der letzten Jahre. Bitte beachten Sie auch das Handout zur Arbeit der Anlauf- und Fachstelle für Diskriminierungsschutz an Schulen und Kitas in Friedrichshain-Kreuzberg.
Pressekontakt:
Für Rückfragen und Interviews stehen wir Ihnen gerne zur Verfügung.
Zur Angriffssituation:
Sabine Seyb
Tel.: +49 30-695 68 339 oder +49 170-4265020
Zu rassistischem Mobbing:
sanchita_basu@reachoutberlin.de
+ 49 30 695 68-339 oder +49 152 152 89788
olenka.bordo.benavides@raa-berlin.de
+49 30 902 98-7318 oder +49 170 682 9994
Weitere Informationen:
Pressemitteilung: Jahresbilanz 2022 der Berliner Beratungsstelle Opferberatung 2022
Website der Beratungsstelle ReachOut: https://www.reachoutberlin.de