Opferberatungen kritisieren die geplante Beschneidung der Opferrechte
Der VBRG e.V. fordert: Politik und Justiz müssen ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gegenüber Betroffenen rechter Gewalt gerecht werden
„Wir zweifeln an der Justiz, an Gerechtigkeit und Gleichheit, an der Demokratie eines Staates, der sich nicht um uns kümmert.“, so ein Überlebender des Nagelbombenanschlags auf die Keupstraße/Köln am 9. Juni 2004, bei den Abschlussplädoyers des NSU-Prozesses vor dem Oberlandesgericht München am 27.11.2017
Unter dem Punkt „Ein handlungsfähiger und starker Staat für eine freie Gesellschaft“ handelt der Koalitionsvertrag der Großen Koalition vom „ermöglichen […] gebündelte[r] Vertretung der Interessen von Nebenklägern“. Hinter dem harmlos pragmatisch klingenden Satz verbirgt sich ein eklatanter Eingriff in die Opferrechte im Rahmen des Strafrechts.
Denn die Strafprozessordnung (StPO) soll dahingehend geändert werden, dass die Zahl der Nebenklagevertretungen bei umfangreichen Strafverfahren begrenzt wird. Das steht im direkten Widerspruch zum erst im Jahr 2015 verabschiedeten 3. Opferrechtsreformgesetz. Durch dieses wurden die im Strafrecht bisher vernachlässigten Opferrechte eindeutig gestärkt.
Auch die aktuelle Debatte um die Rechte der Überlebenden und Hinterbliebenen des Terroranschlags am Berliner Breitscheidplatz beruft sich auf die Notwendigkeit der Stärkung der Betroffenenperspektive in rechtlichen Zusammenhängen. Vor diesen Hintergründen ist es umso weniger nachvollziehbar, dass aus der Politik die Forderung kommt, die Opferrechte im Strafprozess durch Einschränkungen der Nebenklage schwerwiegend zu beschneiden.
Bereits im September 2017 sprach sich der Deutsche Richterbund auf dem bundesweiten Strafkammertag für eine Limitierung der Nebenklagevertretungen aus. Auch der derzeitige Justizminister Heiko Maas plante bereits jüngst eine Änderung der Strafprozessordnung, um Prozesse zu verkürzen. Dabei wird immer wieder auch auf den NSU-Prozess mit seinen 95 Nebenkläger*innen welche 60 anwaltliche Vertretungen haben, verwiesen.
Gerade der Verweis auf die Nebenklagevertretungen im NSU-Prozess verwundert. Eine Einschränkung hätte zur Folge, dass exakt die Angehörigen der Mordopfer und die Überlebenden der Anschläge in ihren Opferrechten massiv eingeschränkt würden, die zuvor über Jahre hinweg von Ermittlungsbehörden beschattet und als Tatverdächtige geführt wurden. Dabei zeigt insbesondere der NSU-Prozess wie wichtig die Option einer individualisierten Möglichkeit auf eine Nebenklagevertretung ist.
Dazu Julian Muckel von der Opferberatung Rheinland: „Wir sind fassungslos, dass dieser Vorstoß mit dem NSU-Prozess begründet wird. Die Aufarbeitung der NSU-Taten hat uns doch gerade gelehrt, dass die Betroffenenperspektive eine grundlegende Rolle spielt. So waren es die Angehörigen von Halit Yozgat und Mehmet Kubaşık, die das rassistische Motiv lange vor den Behörden erkannten. Sie organisierten bereits kurz nach der Tat unter dem Motto „Kein 10. Opfer!“ Trauerzüge.“
Hintergrund
Die Nebenklage ist ein grundlegendes Recht für Betroffene von Gewaltstraftaten. Durch die Nebenklage werden Opferrechte gesetzlich verankert. Zudem wird der Schutz der Betroffenen durch eine adäquate Reaktion auf strategische Prozessanträge der Verteidigung sichergestellt. Darüber hinaus ermöglicht die Nebenklage die aktive Einwirkung Betroffener auf einen Strafprozess.
Aus Sicht der Opferberatungsstellen ist es undenkbar, die Interessen sämtlicher Betroffener und Angehöriger auf eine oder wenige anwaltliche Vertretungen zu reduzieren. Schließlich geht es hier um verschiedene Menschen, mit mannigfaltigen Interessen, die Betroffene bzw. Hinterbliebene unterschiedlicher Anschläge sind. Insbesondere dies spricht gegen eine zwanghafte Einschränkung. Gleichzeitig haben die Nebenklagevertreter*innen durch Befragungen oder Beweismittelanträge wichtige Aspekte zur schwierigen Beweisführung beigetragen. Hingegen waren es Befangenheitsanträge und Unterbrechungen seitens der Verteidigungen der Angeklagten, welche viel Zeit in Anspruch nahmen und die Kosten des Verfahrens in die Höhe trieben.
Häufig bringt insbesondere die Nebenklage elementare Hintergründe zu Tatfolgen bei Betroffenen und Tatmotivationen bei den Täter*innen in Strafprozesse ein. So sind es gerade die Nebenklagevertretungen, die bei rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt das politische Motiv in der Beweisaufnahme thematisieren. Dies geschieht beispielsweise durch eigene Beweismittelanträge oder Befragungen. Sowohl die individualisierte Nebenklagevertretung als auch die Gewährleistung der Akteneinsicht sind für eine adäquate Berücksichtigung der Belange von Gewaltopfern unerlässlich und sollten keinesfalls beschnitten werden. Die Wahrnehmung all dieser Rechte ohne juristischen Beistand ist vor allem in juristisch komplexen Verfahren nahezu unmöglich.
Aus psychosozialer Perspektive haben die Nebenklagerechte auch einen erheblichen Einfluss auf den Bewältigungsprozess der Gewalterfahrung. In der Rolle als Zeug*innen haben Betroffene eine Anwesenheits- sowie Aussagepflicht im Rahmen von Strafprozessen. Somit wird die Konfrontation mit Täter*innen und dem traumatischen Erlebnis fremdbestimmt und zwanghaft herbeigeführt. Die Nebenklage bietet hier neben der Möglichkeit eines juristischen Beistandes, die Einnahme einer aktiven und anklagenden Rolle im Rahmen des Strafprozesses. Dieser Paradigmenwechsel in der Rolle begünstigt eine Aufarbeitung der traumatischen Erlebnisse.
„Das Resultat einer überlasteten Justiz darf nicht die Beschneidung von Opferrechten sein! Wir fordern daher eine Sicherung dieser grundlegenden Opferrechte, um die gesellschaftliche Verantwortung gegenüber Betroffenen von Gewaltstraftaten anzuerkennen und deren Position im Strafprozess zu stärken“ so Muckel.