Rede zur Preisverleihung der Stiftung Pro Asyl zum Menschenrechtspreises 2023 am 2.9.2023 in Frankfurt am Main
von Ibrahim Arslan
Ich möchte meinen besonderen Dank an die Organisation Pro Asyl aussprechen. Ich danke euch für diesen wundervollen Preis und die damit verbundene Solidarität für unsere Perspektiven, unsere Geschichten und unsere Arbeit.
Als ich von diesem ehrenhaften Preis gehört habe, war ich sehr gücklich darüber, dass mich Heike Kleffner vom „Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt“ vorgeschlagen hat. Mit Heike haben wir sehr lange und intensiv für Aufklärung, Beratung und Unterstützung für Betroffene von Betroffenen gekämpft und tun dies heute noch. Mit Pro Asyl habe ich in der Vergangenheit sehr oft verschiedene Interventionen betrieben: auch wenn wir nicht immer voneinander wussten, waren wir schon immer in denselben Kämpfen, Seite an Seite, verwickelt und wussten voneinander. Und heute stehe ich hier und darf diesen wunderbaren Preis gemeinsam mit diesen wunderbaren Menschen entgegennehmen.
Vielen Herzlichen Dank.
Mein Name ist Ibrahim Arslan, ich bin Opfer und Überlebender der rassistischen Brandanschläge von Mölln 1992. Unser Haus wurde am 23. November 1992 von zwei Neonazis angezündet. Bei diesem rassistischen Brandanschlag wurden meine Schwester Yeliz Arslan (10 Jahre alt), meine Großmutter Bahide Arslan (51 Jahre alt) und meine Cousine Ayse Yılmaz (14 Jahre alt) ermordet. Ich habe den rassistischen Mordanschlag auf meine Familie mit sieben Jahren nur knapp überlebt. Meine Großmutter Bahide wickelte mich in nasse Tücher und brachte mich in die Küche, mit der Hoffnung, dass die Küche nicht brennt. Dadurch opferte sie ihr Leben für meines. Heute bin ich 38 Jahre alt und zum Überleben verurteilt!
Es darf kein Vergessen geben! Ein einfacher Satz. Es ist ein Satz, der die Gesellschaft verbindet. Hinter seiner Einfachheit verbergen sich jedoch die Geschichten und Erfahrungen unzähliger Betroffener. Er ist die Lösung antifaschistischer und antirassistischer Kämpfe, die eine Linie der Kontinuität aufzeigt, die von Hanau im Jahr 2020, nach Mölln im Jahr 1992, bis hin zur nationalsozialistischen Gewalt der 1930er und 1940er Jahre reicht.
Damals wie heute ist rassistische und rechte Gewalt an der Tagesordnung, und die Erinnerung daran ist umkämpft: Die Morde in Mölln ereigneten sich in einer Zeit rassistischer Hetze, insbesondere gegen Geflüchtete, die auch Teile von Politik und Medien mitzuverantworten hatten. Mölln reiht sich ein, neben den rassistischen Pogromen von Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Mannheim-Schönau und Hünxe, sowie den Mordanschlägen von Solingen und Lampertsheim. Nur zwei Tage vor den rassistischen Brandanschlägen von Mölln ermordete in Berlin ein Neonazi den Antifaschisten Silvio Meier. Wir als Familie und Freundeskreis wissen, dass rassistische Taten gegen POC und B-POC schon lange vor dem Mauerfall in Deutschland registriert wurden, allerdings tauchen sie in der bundesdeutschen Geschichte nicht oder kaum auf. Beispiele hierfür sind die Taten an zwei jungen Vietnamesen aus Hamburg in der Halskestraße, Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân 1980, der rassistische Brandanschlag in Duisburg 1984, bei dem sieben Menschen mit Migrationshintergrund ermordet wurden, der Mord in Hamburg an Mehmet Kaymakcı 1985 sowie an Ramazan Avcı ebenfalls 1985. Dass sich Semra Ertan in Hamburg 1982 auf offener Straße das eigene Leben nehmen musste, um eine Reaktion gegen Rassismus zu setzen, und noch viele weitere Ereignisse… Ich sage es immer wieder: „Bei solchen Taten muss so lange von einem rassistischen Motiv ausgegangen werden, bis die Justiz glaubhaft das Gegenteil bewiesen hat“. Vor allem im Zuge des gesellschaftlichen Rechtsrucks der letzten Jahre – mit rassistischen Mobilisierungen wie Pegida, den Wahlerfolgen der AfD und Verschärfungen des Asylrechts – bewegen sich auch heute rassistische Stimmungen, Bedrohungen, Gewalt und Brandanschläge auf einem erschreckend hohen Niveau.
Die Situation erinnert teilweise an jene zu Beginn der 1990er Jahre.
Es darf kein Vergessen geben!
Dieser Satz ist nicht nur das verbindende Element unserer Kämpfe, er ist auch die Bedingung für ein würdiges Erinnern und Gedenken. Ein würdiges Gedenken und Erinnern, das wir gewillt sind zu erkämpfen. Die Erinnerung an das Geschehene, an das Vergessene, an das stets Verschwiegene, an die Ursachen und die Folgen, an das Davor und Danach, gilt es zu nähren, zu pflegen, zu bewahren. Diese Erinnerung muss zur Erinnerung aller werden. Denn sie mahnt uns, sie lehrt uns, sie leitet uns. Diese Forderungen sind aktueller denn je. Es gibt eine Kontinuität rechter-rassistischer und Antisemitischer Gewalt in diesem Land, die benannt werden muss – genauso wie die Kontinuität, wie wir mit Betroffenen und Angehörigen umgehen.
Neben der direkten Hilfe und Stabilisierung von Opfern und Angehörigen, neben der sozialen Wiedereingliederung und neben dem Strafprozess gegen die Täter*innen sowie der Anerkennung und Benennung der rechtsterroristischen Gewalt gibt es die Dimension der Erinnerung als politische Praxis. Die Erinnerung zurück zu erkämpfen an das Geschehene, an das Vergessene, an das Verschwiegene, an die Ursachen und die Folgen, an das Davor und das Danach – diese Forderungen sind aktueller denn je. Es ist daher auch von großer Bedeutung, Orte des Sprechens über rassistische und Antisemitische Gewalterfahrungen, Gedenken und eine kritische Auseinandersetzung damit zu schaffen. Erst wenn Betroffene ihre Geschichten erzählen, ihnen zugehört wird und wir uns darüber austauschen, was Ungerechtigkeit ist und wie die Gerechtigkeit aussehen kann, können wir die Spielregeln dieser Gesellschaft und die gegenwärtigen Erzählungen verändern.
Es existieren viele Erfahrungen und Geschichten, zahlreiche Verletzungen, Wünsche und Bedürfnisse sowie diverse Perspektiven. Diese gilt es zu hören, aus der Vereinzelung herauszuführen, zu vernetzen und so Erinnerungspolitiken als ein kollektives Unterfangen in all seiner Vielfalt zu hinterfragen. Es ist unsere Verantwortung, eng mit Betroffenen zusammenzuarbeiten, um diesen Zustand zu verändern. Die Betroffenen sollten nicht erst kämpfen müssen, um ein respektvolles Gedenken zu erhalten.
Es liegt in der Pflicht der gesamten Gesellschaft, Verantwortung zu tragen, denn unser Gedenken dient nicht nur dazu, den Familien und Betroffenen einen Gefallen zu tun. Es dient auch dazu, das gesamtgesellschaftliche Problem des Rassismus anzuerkennen, welches nicht ignoriert werden darf. Diesbezüglich ist es notwendig, gemeinsam sicherzustellen, dass in allen Bereichen der Interventionen die Betroffenen und Angehörigen explizit in der Bildungsarbeit einbezogen werden.
Ein kritischer Punkt ist, dass viele Multiplikatoren*innen betonen, dass Betroffene nicht immer den Zugang zu Schüler*innen oder der Gesellschaft finden oder diesen Anspruch gar nicht erst wahrnehmen wollen. Außerdem wird oft darauf hingewiesen, dass die Erreichbarkeit der Zielgruppe meistens nicht gegeben ist. Aus meiner eigenen Erfahrung, aus der Praxis heraus, kann ich jedoch definitiv sagen, dass dies nicht zutreffend ist. Im Gegenteil, die Gesellschaft sehnt sich förmlich danach, die Perspektiven von Betroffenen und Angehörigen anzunehmen. Die meisten Menschen kennen diese Perspektiven nicht und wissen nicht, wie man nach einem Anschlag mit Betroffenen und ihren Symptomen umzugehen. Sie können sich nicht in die Lage dieser Personen hineinversetzen, da die dominante Gesellschaftsstruktur nicht von diesen Problemen betroffen ist. Deshalb ist ein gemeinsamer Austausch auf Augenhöhe mit Betroffenen und Angehörigen von entscheidender Bedeutung, sowohl für gegenwärtige als auch zukünftige Gedenkpraxen für eine würdevolle Erinnerungspolitik.
Dazu kommt, dass wenn die Gesellschaft sich permanent mit Täter*innen auseinandersetzt und ihre Expertisen „Ein-Perspektivisch“ erfasst und erzählt wird, dies zur Reproduktion von weiteren Täter*innen führt! Demenentsprechend wird explizit im Bildungsbereich dringend, ein Perspektivwechsel eingefordert. Wir müssen anfangen, schnellstmöglich, unbürokratisch und schnell, die Betroffenen und Angehörigen in den genannten Bereichen einzusetzen.
Betroffene und Angehörige sind schon seit Jahrzenten in verschiedenen Interventionen beteiligt. Sie speichern Dokumentationen, schreiben Bücher, entwickeln Bildungsbausteine, Expertisen. Sie setzten sich im künstlerischen sowie in kulturellen Bereichen erfolgreich und effektiv ein. Sie sind Aktivist*innen, die als Hauptzeugen*innen über Wissen verfügen, das sie effektiv einsetzen können. Dieses Wissen dient nicht nur der Verteidigung der Opfer, sondern auch einer antirassistischen, antifaschistischen und demokratischen Verteidigung der Gesellschaft.
Wenn wir zukünftig über Rassismus und eine professionelle, solidarische Gedenkkultur sprechen möchten, ist es von entscheidender Bedeutung, dies auf partnerschaftlicher Augenhöhe und im Rahmen einer radikalen Partizipation mit den Betroffenen und Angehörigen zu tun.
Die von Politik und Institutionen erwarteten „Qualitätsstandards“ im Bildungssystem müssen zwangsläufig anhand einer Gegenüberstellung mit dem Wissen der Betroffenen überprüft, ergänzt, diskutiert, erweitert und auch kritisiert werden dürfen. Um professioneller zu werden, müssen Bildungsbereiche in der Wissensproduktion verstärkt Betroffene einbeziehen. Ohne das Wissen von denjenigen, die von Gewalt betroffen sind, können wir rechte, rassistische und antisemitische Gewalt und ihre Dimensionen nicht erfassen, geschweige denn politische Interventionen einfordern.
Es war schon immer einfacher, über und mit den Täter*innen zu sprechen. Es ist viel unkomplizierter, sich mit der Vergangenheit der Täter*innen zu beschäftigen, da dies bedeutet, dass man sich nicht mit den Fragen der Gegenwart auseinandersetzen muss oder denkt, dass man sie beantworten kann. Dadurch wird es auch immer einfacher sein, die Schuld von sich abzuwehren, denn von strukturellem Rassismus und Antisemitismus profitieren all jene, die nicht selbst von Rassismus und Antisemitismus betroffen sind. Der strukturelle Rassismus und Antisemitismus der Gesellschaft ist ebenso real wie der tödliche Rassismus und Antisemitismus des Rechtsterrors. Beides ist nach wie vor Rassismus und Antisemitismus.
Nun liegt es an uns selbst, unsere Perspektiven zu wechseln und anzufangen, zuzuhören. Wir müssen Solidarität entwickeln, um eine neue, bessere und würdevolle Gedenkkultur im Sinne der Opfer, Überlebenden, Betroffenen und Angehörigen zu schaffen.
Denn vergessen wir nicht
„Opfer und Überlebende sind keine Statisten*innen, sie sind die Hauptzeugen*innen des Geschehens“.
Rede von Ibrahim Arslan zur Verleihung des Menschenrechtspreises von Pro Asyl als PDF zum Download