Gewalttaten von Anhänger*innen der Bewegung der Reichsbürger*innen, der Coronaleugner*innen und rechten Verschwörungsnarrativen werden vom Bundeskriminalamt und den Landeskriminalämtern in vielen Fällen nicht als „Politisch motivierte Gewalt Rechts (PMK Rechts) registriert, sondern als „Politisch motivierte Gewalt – nicht zuzuordnen“. Das führt zu einem dramatisch hohen Ausmaß an Untererfassung rechter Gewalt.[1] Dabei sind die zentralen Verschwörungsnarrative rassistisch, antisemitisch und demokratiefeindlich und finden inzwischen weit über die Teilnehmendenkreise von „Querdenken“-Demonstrationen hinaus Zustimmung. Dies zeigt die im April 2023 von der Friedrich-Ebert-Stiftung herausgegebene Studie „Demokratievertrauen in Krisenzeiten“: Etwa ein Viertel der Befragten bejahte Aussagen wie „Die herrschenden Eliten verfolgen das Ziel, das deutsche Volk durch Einwanderer auszutauschen“ und „Die westliche Welt hat sich gegen Russland und Putin verschworen, um die eigene Macht auszubauen“.
Das Monitoring des Opferberatungsstellen im VBRG e.V. zeigt: Rechte Aktivist*innen organisieren und bewaffnen sich. Sie greifen gezielt Personen an, die sie als politische Gegner*innen ansehen: Politiker*innen, Journalist*innen, Wissenschaftler*innen, Linke. Die zahllosen Angriffe bei Demonstrationen von Pandemieleugner*innen und Putin-Anhänger*innen haben Deutschland zu einem im internationalen Vergleich gefährlichen Ort für Journalist*innen werden lassen wie Reporter ohne Grenzen: Nahaufnahme Deutschland feststellt.
Unterfassung rechter Gewalt steigt in 2022 massiv
Für 2022 droht nun eine erhebliche Ausweitung der Untererfassung rechter Gewalt. Dies zeigt sich u.a. in Thüringen, Sachsen und Nordrhein-Westfalen: Mehr als die Hälfte aller PMK-Gewalttaten (140 von 261) finden sich für 2022 beim Thüringer LKA und Innenministerium unter „PMK nicht zuzuordnen“; PMK- Rechts-Gewalttaten stiegen auf 93 (2021: 60) und machen im Freistaat ein knappes Drittel der Politisch Motivierten Kriminalität (PMK) aus.[2]. In Sachsen wurde ein Drittel der PMK-Gewaltdelikte in 2022 in der PMK Kategorie „nicht zuzuordnen“ erfasst (101), bei 84 PMK-Rechts-Gewalttaten.[3] Auch in Nordrhein-Westfalen stieg die Anzahl von PMK-„nicht zuzuordnen“-Gewaltdelikten erneut erheblich. (2022: 101; 2021: 69)[4] Bereits 2021 hatten die Opferberatungsstellen kritisiert, dass sich die Zahl der polizeilich „nicht zugeordneten“ politisch motivierten Gewalttaten innerhalb von 12 Monaten auf 1.044 Fälle verdreifacht hatte (2020: 591). Damit überstieg die Anzahl von PMK-„nicht zuzuordnen“-Gewalttaten erstmals die Anzahl von 1.042 PMK-Rechts-Gewalttaten, die das Bundeskriminalamt registrierte.[5]
Exemplarisch für viele Fälle polizeilicher Täter-Opfer-Umkehr steht hier auf den Angriff einer Gruppe von Coronaleugner*innen auf die Schülerin Dilan S. am 5. Februar 2022 in Berlin. Erst nachdem die Schülerin über Social Media die Übernahme des rassistischen Täter-Opfer-Umkehr-Narrativs der Angreifer durch die Polizei kritisierte, wurde nicht mehr gegen die 17-Jährige wegen eines vermeintlichen Verstoßes gegen die Corona-Schutzmaßnahmen, sondern gegen die polizeibekannten rechten Angreifer wegen einer rassistisch motivierten Gewalttat ermittelt.
Einige Beispielfälle aus dem unabhängigen Monitoring der im VBRG zusammengeschlossenen Opferberatungsstellen für das Jahr 2022 machen sowohl die ideologischen Hintergründe als auch die Bewertungen der Taten als rechte Gewalt deutlich.
Angriffe bei Demonstrationen gegen Journalist*innen und „politische Gegner*innen“:
17.01.2022, Rostock: Am Rande einer Demonstration gegen die Corona-Schutzmaßnahmen wurden zwei Frauen von mehreren Tätern beleidigt, bedrängt und mit einer Vergewaltigung bedroht. (Quelle: LOBBI)
17.01.2022, Halle (Saale): Mehrere Beobachter*innen wurden bei einer Demonstration von Verschwörungsgläubigen von einer Gruppe überwiegend vermummter Teilnehmer gejagt und mit Schlägen und Tritten attackiert. (Quelle: Mobile Opferberatung Sachsen-Anhalt)
24.01.2022, Coswig: Bei einer Demonstration von Pandemieleugner*innen wurden ein Journalist und sein Begleitschutz mit Glasflaschen beworfen. Die Polizei nahm Ermittlungen wegen gefährlicher Körperverletzung auf. Einige Pandemieleugner*innen beschimpften Gegendemonstrant*innen als „Drecksjuden“. (Quelle: RAA Sachsen)
31.01.2022, Dresden: Während einer Versammlung gegen die Corona-Schutzmaßnahmen schlug ein Teilnehmer einer Journalistin auf ihre Kamera, ein weiterer Mann versuchte mit körperlicher Gewalt eine Blockade von Gegendemonstrant*innen zu durchbrechen. Letztere wurden von den Pandemieleugner*innen grob beschimpft, eine Person zeigte dabei den Hitlergruß. (Quelle: RAA Sachsen)
05.02.2022, Reutlingen: Am Rand eines Demonstrationszugs von Pandemie-Leugner*innen traten und schlugen mehrere Teilnehmer auf einen minderjährigen Gegendemonstranten ein und stahlen dessen Plakat. (Quelle: Reutlinger Generalanzeiger)
14.02.2022, Berlin: Bei einer Demonstration gegen Corona-Schutzmaßnahmen griff ein Teilnehmer eine Gegendemonstrantin an und warf sie zu Boden. Die 72-jährige Frau erlitt dadurch eine Platzwunde am Kopf und mehrere Prellungen, zudem wurde ihre Brille beschädigt. Passant*innen stellten den Täter, sodass die Polizei dessen Personalien aufnehmen konnte. (Quelle: Register Reinickendorf, ReachOut Berlin)
18.05.2022, Kassel: Während einer Kundgebung gegen die Corona-Schutzmaßnahmen greift ein Teilnehmer eine Gegendemonstrant*in an und schlägt zu. Der Mann wurde festgenommen. (Quelle: Opferberatung Response: Hessen schaut hin)
4.10.2022, Weimar: Während einer Versammlung von Pandemieleugner*innen griff ein Teilnehmer einer Journalistin ins Gesicht und riss ihre Schutzmaske ab, anschließend spuckte er ihr in den Mund. Die Polizei nahm Ermittlungen auf. (Quelle: Thüringer Allgemeine, ezra Opferberatung)
5.12.2022, Berlin: Teilnehmer*innen einer Demonstration gegen die Corona-Schutzmaßnahmen beleidigten und attackierten mehrere Pressevertreter*innen. Ein Journalist wurde angespuckt, eine Journalistin von einem Teilnehmer namentlich angesprochen und sexistisch beleidigt. (Quelle: Register Mitte, ReachOut Berlin)
Rassismus als Tatmotiv
05.02.2022, Berlin: Eine 17-Jährige bat eine sechsköpfige Gruppe Erwachsener in einer Straßenbahn, Schutzmasken zu tragen, woraufhin sie rassistisch und sexistisch beleidigt wurde. Als die Jugendliche kurz darauf ausstieg, schlug eine Frau aus der Gruppe ihr an der Haltestelle mit der Faust ins Gesicht. Zwei Männer packten die Jugendliche und hielten sie fest, während zwei Frauen auf sie eintraten. Die Schülerin wurde erheblich verletzt und musste stationär behandelt werden. In ersten Polizei-Pressemitteilungen übernahm die Polizei die rassistische Täter-Opfer-Umkehr der Angreifer und beschuldigte die Angegriffene, gegen Coronaschutzmaßnahmen verstoßen und den Angriff verursacht zu haben. (Quelle: Berliner Zeitung, ReachOut Berlin)
25.02.2022, Berlin: Eine 26-jährige Angestellte wies einen Kunden beim Betreten eines Möbelhauses auf die Masken-Pflicht hin. Daraufhin schlug der 57-Jährige der Frau ins Gesicht und beleidigte sie rassistisch. Der Kunde wurde festgenommen. (Quelle: Polizei Berlin, ReachOut Berlin)
10.03.2022, Halle (Saale): Am Rand einer Kundgebung für Frieden in der Ukraine provozierte ein Rechtsextremer und schwenkt eine Russlandfahne. Als zwei 42- und 65-jährige Ukrainerinnen ihn aufforderten, die Fahne herunterzunehmen, wurde die 65-Jährige attackiert und erhielt einen Stoß vor die Brust. (Quelle: Mobile Opferberatung Sachsen-Anhalt)
28.03.2022, Wulkow: Ein 38-jähriger Busfahrer wies zwei Männer an einer Haltestelle auf die Masken-Pflicht im Bus hin. Daraufhin beleidigten die Männer den Fahrer rassistisch und warfen eine Glasflasche nach ihm. Der Fahrer blieb unverletzt, weil er die Tür rechtzeitig schließen konnte. Die Täter versuchten anschließend, die Tür mit Gewalt zu öffnen. (Quelle: Opferperspektive)
20.10.2022, Bitterfeld: Eine 38-jährige Ukrainerin und ihre 14-jährige Tochter wurden beim Einkaufen in einem Geschäft rassistisch beleidigt, als Ukrainerinnen beschimpft, geschlagen und verletzt. (Quelle: Mobile Opferberatung Sachsen-Anhalt)
Angriffe gegen Journalist*innen
22.03.2022, Berlin: Eine Mitarbeiterin des ND-Verlages wurde beim Verlassen des Verlagsgebäudes von zwei Männern, die die Corona-Pandemie leugneten und sich abfällig über die Medienberichterstattung äußerten, beleidigt und attackiert. Die 27-Jährige konnte einem Schlag ausweichen. Ein hinzugekommener Kollege wurde von den Tätern in den Rücken getreten und verletzt, zudem warfen sie eine Bierflasche nach ihm. (Quelle: ReachOut Berlin)
23.8.2022, München: Bei einer öffentlichen Pressekonferenz des bayerischen Gesundheitsministers auf dem Marienplatz griff ein 23-Jähriger einen Reporter des Bayerischen Rundfunks an. Der Angreifer rief „Ich vernichte euch alle“ und schlug dem Journalisten mehrfach mit der Faust auf den Kopf. Der Täter wurde festgenommen. (Quelle: Münchner Abendzeitung)
Angriffe gegen Mitarbeiter*innen im Gesundheitswesen
03.01.2022, Boizenburg: Eine Arztpraxis, die Corona-Schutzimpfungen anbietet, wurde mit Parolen besprüht, die Fensterscheiben durch Steinwürfe zerstört. Die Angestellten berichten Journalist*innen, dass der Vorfall das Team und auch zahlreiche Patient*innen geschockt habe. (Quelle: LOBBI)
29.01.2022, Essen: Bei einer Impf-Aktion gegen das Corona-Virus in der Eissporthalle bedrohten vier mit Eisenstangen bewaffnete Männer, die einen aggressiven Hund mitführten, Patient*innen und das medizinische Personal. Dabei riefen sie Nazi-Parolen. Als der Sicherheitsdienst erschien, verließen die Angreifer das Gebäude. (Quelle: Der Westen, Opferberatung Rheinland)
Bedrohung von politisch Verantwortlichen
17.01.2022, Gera: Nach einem Aufruf eines Neonazis zogen 1.200 Pandemieleugner*innen in einer nicht genehmigten Demonstration zum Wohnhaus des Oberbürgermeisters von Gera, wo sie Parolen skandierten. Der parteilose Julian Vonarb sagte danach, er werde sich nicht einschüchtern lassen, die Situation sei aber schrecklich gewesen, besonders weil seine Familie sie erleben musste. (Quelle: ezra Opferberatung)
24.02.2022, Halberstadt: Angeführt von der Neonazi-Kameradschaft „Harzrevolte“ zogen mehrere hunderte Teilnehmer*innen einer Demonstration gegen die Corona-Schutzmaßnahmen mit Trommeln und Trillerpfeifen vor das Privathaus des Oberbürgermeisters Daniel Szarata (CDU). Dort zündeten sie Feuerwerkskörper und riefen Parolen. Die Polizei nahm Ermittlungen wegen schwerem Landfriedensbruch auf. (Quelle: Mobile Opferberatung Sachsen-Anhalt)
28.01.2022, Jena: Der Ordnungsdezernent der Stadt Jena, Benjamin Koppe (CDU), erhielt ein anonymes Drohschreiben, indem „Gewalt“ und eine „Eskalation des Widerstands“ in Zusammenhang mit Demonstrationen gegen Corona-Schutzmaßnahmen angekündigt wurde. (Quelle: OTZ, ezra Opferberatung)
Reichsbürger*innen: Rechtsextrem, organisiert und bewaffnet
In dem Milieu der Pandemie-Leugner*innen und Verschwörungsgläubigen („Querdenken“) gibt es erhebliche Schnittmengen zu militanten Rechtsextremen, vor allem zu den sogenannten „Reichsbürgern“. Bei deren Aktivist*innen ist ein Übergang von Demonstrationen und Propaganda zur Bewaffnung bis hin zur Planung und Durchführung schwerer Gewalttaten festzustellen. Dabei sind die detaillierten Putschvorbereitungen der illegalen Gruppe um Prinz Reus und die AfD-Bundestagsabgeordnete Malsack-Winkemann (siehe dazu: Die ZEIT: Countdown zum Umsturz) nur die Spitze des Eisbergs.
Sachsen: Am 11. Januar 2022 beschlagnahmte die Polizei bei fünf Männern und einer Frau aus Dresden und Heidenau (Sachsen), die sich an „Querdenken“ und „Pegida“-Demonstrationen beteiligt hatten, Sprengstoff und Armbrüste. Reporter des ZDF-Magazins Frontal hatten aufgedeckt, dass die Beschuldigten sich in einem etwa 100 Personen großen Telegram-Chat darüber ausgetauscht hatten, auf Impfteams zu schießen und den sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (CDU) zu ermorden. In der Gruppe „Dresden Offline-Vernetzung“ teilten sie laut Frontal Anleitungen für Terroranschläge, außerdem trafen sie sich in einem Waldstück bei Dresden. (Quelle: ZDF)
Baden-Württemberg: Am 7. Februar 2022 wurde ein 62-Jähriger, der nach einer Demonstration von Pandemieleugner*innen in Efringen-Kirchen (Baden-Württemberg) auf dem Nachhauseweg war, in seinem PKW zu einer Polizeikontrolle angehalten. Dabei versuchte der Reichsbürger, einen Polizisten zu überfahren. Das Stuttgarter Oberlandesgericht hat ihn wegen versuchten Mordes zu einer Haftstrafe von zehn Jahren verurteilt. (Quelle: Weiler Zeitung)
Brandenburg: Am 13. April 2022 wurden vier Männer und eine Frau, die sich in den Telegram-Chats „Vereinte Patrioten“ und „Aktive Patrioten“ koordinierten, verhaftet. Sie hatten Anschläge auf das Stromnetz geplant, um einen Bürgerkrieg auszulösen, und die Entführung des Bundesgesundheitsministers Karl Lauterbach (SPD). Die Bundesanwaltschaft hat gegen den mutmaßlichen Anführer, einem 54-jährigen Pandemieleugner aus Falkensee (Brandenburg), und vier weitere Verdächtige Anklage erhoben. (Quellen: Berliner Zeitung, RBB)
Baden-Württemberg: Am 20. April 2022 schoss ein 54-jähriger Kampfsporttrainer in Boxberg (Baden-Württemberg) auf Polizisten, die seine Wohnung durchsuchen wollten, mit einem Maschinengewehr. Bei einem zweistündigen Feuergefecht wurde ein Beamter schwer verletzt. Der Reichsbürger hatte Infektionsschutzvorschriften missachtet und deshalb seine Arbeit in einem Sportcenter verloren, anschließend trat er auf „Querdenken“-Demonstration auf. Die Bundesanwaltschaft hat Anklage gegen den Täter erhoben. (Quellen: SWR, ZDF)
Wann und warum gehen die Opferberatungsstellen von rechter Gewalt aus?
Im unabhängigen Monitoring der im VBRG zusammengeschlossenen Opferberatungsstellen werden nach intensiven fachlichen Diskussionen unter den Beratungsstellen und mit zivilgesellschaftlichen Kooperationspartner*innen Gewalttaten im Zusammenhang von Anhänger*innen der Coronaleugner-Bewegung und Verschwörungsideologien anhand nachfolgender Kriterien als rechte Gewalt gewertet:
+ Politische (Selbst)-Verortung des oder der Täter*in
(u. a. in Sozialen Netzwerken, Aktivitäten oder Zugehörigkeit in extrem rechten Parteien, Neonazi-Kameradschaften, Gruppierungen oder der Reichsbürger*innenbewegung).
Entweder es sind eine Organisierung oder Aktivitäten in rechten Gruppierungen bekannt, oder eine Zuordnung ergibt sich aus Kleidung, etwa T-Shirts und Armbinden mit antisemitischen Botschaften wie „Impfen macht Frei“, Tattoos oder Symboliken. Von einer ideologischen Verbundenheit mit rechten Milieus kann auch ausgegangen werden, wenn Täter*innen an rechten Demonstrationen teilgenommen haben, sich über Social Media entsprechend vernetzen und äußern sowie wenn rechte Einstellungen durch Äußerungen vor, während oder nach der Tat zum Ausdruck gebracht werden.
+ Auswahl der Angegriffenen und Betroffenen
(u.a. als Repräsentant*innen von Gruppen, die im extrem rechten Weltbild als politische Gegner*innen angesehen werden – beispielsweise Journalist*innen, Gegendemonstrant*innen gegen Demonstrationen und Kundgebungen der Leugner*innen-Bewegung, Wissenschaftler*innen, Mitarbeiter*innen in Test- und Impfzentren, politische Verantwortungsträger*innen in der Kommunal-, Landes- und Bundespolitik).
Betroffen von diesen Angriffen sind diejenigen, denen durch die Täter*innen bestimmte Rollen, Positionen oder Handlungen zugeschrieben werden. Sie werden als Feind konstruiert und stellvertretend angegriffen: Gegendemonstrant*innen zu Aufmärschen der Coronaleugner/Pandemieverharmloser*innen-Bewegung, Journalist*innen im Kontext von Demonstrationen, Zugbegleiter*innen, Kassierer*innen, Laden- oder Gastronomiebetreiber*innen etc., die auf die Maskenpflicht hinweisen oder 2 bzw. 3G Nachweise kontrollieren, Personal in Impf- oder Testzentren, im Gesundheitswesen, Ärzt*innen. Im aktuellen Diskurs eine Feindbildkonstruktion auf Basis von rechten Verschwörungsideologien statt. Die Betroffenen werden „dem System“ zugeordnet, die sich mit der Aufforderung Maske zu tragen oder durch ihre aktive Beteiligung am Impfen, gegen „das Volk“ stellen. Sie werden zu politischen Gegner*innen erklärt. Sozialdarwinismus, Antisemitismus und Rassismus spielen in dieser Feindbildkonstruktion als Ideologieelemente ebenso eine Rolle wie klassische rechte Denkmuster der Ablehnung demokratischer Prozesse und Institutionen.
+ Umstände der Tat:
(Wenn etwa Mitarbeiter*innen von Tankstellen, Supermärkten, Bahn- und ÖPNV-Personal angegriffen werden, weil sie die Maskenpflicht durchsetzen und der*die Täter*innen mit diesem Angriff ein Zeichen setzen oder eine Botschaft „gegen das System/die Regierung“ verbindet und/oder sich antisemitisch und/oder rassistisch äußert. Als Umstände der Tat gelten auch Zeit und Ort, also etwa Kundgebungen und Aufmärsche der Pandemieleugner-/verharmloser*innen-Bewegung.)
Auf der Basis rechter Verschwörungsideologien, Antisemitismus und Sozialdarwinismus wurden in 2021 und 2022 etwa Mitarbeiter*innen von Test- und Impfzentren oder Zug-, Laden- und Gastronomiepersonal, das auf die Maskenpflicht hinweist, als politische Gegner*innen angesehen und angegriffen. Dabei spielt auch die Ablehnung demokratischer Entscheidungsprozesse und Institutionen in der Konstruktion der Feindbilder eine Rolle. Hinzu kommen Fälle, in denen Rassismus die Tat zusätzlich eskalierte.
Die Umstände einer Gewalttat können auch dann Hinweise auf rechte Ideologien als Tatmotiv liefern, wenn die Täter*innen nicht in verschwörungsideologischen Milieus aktiv sind bzw. die politische (Selbst-)Verortung von Täter*innen sich nicht explizit klären lässt. So spricht die etwa die Tatdynamik für eine entsprechende Verortung, wenn wir davon ausgehen, dass ein Faustschlag als Reaktion auf die Aufforderung Maske zu tragen nicht verhältnismäßig ist und diese Überreaktion aus einer Verfestigung schon zumeist vorher vorhandener rechter Einstellungen im Zuge der Proteste gegen die Maßnahmen zur Einschränkung der Coronapandemie resultiert. Denn die Maskenpflicht und 2- bzw. 3G-Regeln wurden durch verschwörungsideologische und rechtsextreme Milieus zu vermeintlichen Unterdrückungsmaßnahmen erklärt. Wer sich dagegen wehrt, wird zum „Widerstands- oder Freiheitskämpfer“ stilisiert. Daraus resultieren so genannte Gelegenheitstaten, bei denen diejenigen, die die Pandemieschutz-Regeln durchsetzen, spontan und unvermutet angegriffen werden, und die Täter*innen sich als „Widerstandskämpfer*innen“ inszenieren ebenso wie die Selbstlegitimierung rechtsterroristischer Gruppen.
Rechte Botschaftstaten in Idar-Oberstein und Senzig als PMK Rechts Tötungsdelikte
Immer wieder verstehen die Täter*innen ihre Gewalttaten als „Botschaftstaten“. Fünf Menschen starben in 2021 bei politisch rechts motivierten Tötungsdelikte durch rechte Anhänger der Coronaleugner-Bewegung: Der 20-jährige Tankstellenmitarbeiter Alex W. am 18.9.2021 in Idar-Oberstein (RLP) und vier Familienmitglieder der Familie R. – darunter drei Kinder im Grundschulalter – am 4.12.2021 in Senzig (BRB). Doch die Landeskriminalämter in Rheinland-Pfalz und Brandenburg – und damit auch das BKA – stufen die Tötungsdelikte völlig unterschiedlich ein. Während der vierfach-Mord in Senzig als PMK Rechts Tötungsdelikt (Hasskriminalität / Antisemitismus) bewertet wird, wird der Mord an Alex W. als PMK Tötungsdelikt „nicht zuzuordnen“ eingestuft.[6]
In beiden Fällen hatten sich die mit illegalen Schusswaffen ausgestatten Täter schon seit mehreren Jahren in rechten, rassistischen und antisemitischen Milieus bewegt – und nicht erst mit Beginn der Pandemieschutzmaßnahmen. Zum Täter von Idar-Oberstein hat das Landgericht Bad Kreuznach im rechtskräftigen Urteil (Az 1 Ks 1041 Js 12424/21) vom 13.9.2022 u.a. festgestellt: „Der Angeklagte fühlte sich seit der sogenannten Flüchtlingskrise im Jahr 2015 zunehmend durch die öffentlichen Institutionen und die Politik nicht mehr vertreten. Er entwickelte Hassgefühle auf Politiker, die die Flüchtlingspolitik dieser Zeit vertraten, insbesondere auch auf die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel. Die aus seiner Sicht von ihr betriebene „Öffnung der Grenzen“ sah er als „illegal“ an, die ankommenden Flüchtlinge bezeichnete er in Chats des Messengerdienstes „X“ als „K***“.“ (…) Entsprechende Ressentiments entwickelte der den Klimawandel in Abrede stellende Angeklagte auch gegenüber Vertretern der Klimaschutzbewegung und hegte Vorstellungen der gewaltsamen Bestrafung dieser Personen bis hin zu deren Vernichtung. (…) Sein Hass auf Politiker und Andersdenkende verstärkte sich mit dem Beginn der Corona-Pandemie und den damit einhergehenden Einschränkungen des öffentlichen Lebens im März 2020.“ (…) Der nahtlose Übergang vom Thema „Flüchtlinge“ zum Thema Corona zeigt sich u.a. in einer Nachricht vom 02.09.2020: „Von mir aus die ganze Regierung in die Gaskammer und das ganze K***gesockse was seit 2015 kam gleich mit.“(…) „In der Gesamtschau dieser Kommunikation wird deutlich, dass der Angeklagte sich – auch bereits vor der Corona-Krise, verstärkt dann im Zuge derselben – eine Weltsicht aneignete, mit der er Menschen, welche diese nicht teilten, pauschal abwertete, sie als für die Gemeinschaft wertlos betrachtete und ihnen in ihnen in letzter Konsequenz das Lebensrecht absprach.“ Das extrem rechte Weltbild des Täters von Idar-Oberstein beschreibt das Landgericht Bad Kreuznach sehr eindeutig: „In den vorstehenden Äußerungen zeigt sich zur Überzeugung der Kammer zum einen die
Neigung des Angeklagten, andere Menschen, die seinen Vorstellungen nicht entsprechen, nicht lediglich hinsichtlich ihrer Handlungen zu kritisieren, sondern sie in ihrer Gesamtheit als Mensch abzuwerten, ihnen die Daseinsberechtigung abzusprechen und sie zu verdammen, zum anderen die hiermit verknüpfte Vorstellung der legitimen Anwendung von Gewalt, sei es im Kollektiv im Widerstand gegen verantwortliche Personen, etwa Politiker, sei es im persönlichen Bereich im Rahmen von konfrontativen Aufeinandertreffen.“
Zum Mord und Mordmotiv an Alex W. stellte das Landgericht Bad Kreuznach fest: „Er war sich bei der Schussabgabe bewusst, dass A. W. an seiner Lebenssituation keinen Anteil hatte und lediglich als Mittel zum Erreichen des von ihm erstrebten Zwecks, dem Setzen eines Zeichens des gewaltsamen Widerstands gegen die gesellschaftlichen und politischen Maßnahmen zur Bewältigung der von ihm negierten Corona-Pandemie, diente. Er gab den tödlichen Schuss ab, weil er der Auffassung war, dass A.W. stellvertretend für die aus seiner Sicht hierfür verantwortlichen Politiker und sonstigen die Maßnahmen unterstützenden Personen aufgrund des von ihm zu treffenden Unwerturteils zu sterben hätte.“
Die Opferberatungsstellen fordern daher vom BKA und LKA Rheinland-Pfalz den 21-jährigen Alex W. als Todesopfer rechter Gewalt anzuerkennen und den Mord an dem jungen Tankstellenmitarbeiter in Idar-Oberstein als PMK Rechts Tötungsdelikt zu klassifizieren.
[1] Auch die von den Verfassungsschutzämtern eingeführte Kategorie „verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ verharmlost die Gefahr, die von Anhänger*innen rechter Verschwörungsnarrative und der Reichsbürger*innen-Bewegung für Betroffene von Rassismus, Antisemitismus und Rechtsterrorismus ausgeht.
[2] vgl: Thüringer Ministerium für Inneres und Kommunales: Statistik Politisch motivierte Kriminalität, S. 8
[3] vgl: Polizei Sachsen: Kriminalitätsentwicklung im Freistaat Sachsen im Jahr 2022, S. 24
[4] Vgl. Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen über das Jahr 2022, S. 21
[5] S. BKA 2022: Bundeskriminalamt: Politisch motivierte Kriminalität 2021, S. 7
[6] vgl. BT-Drs. 20/719, S. 4, vom 15.2.22; BMI: Politisch Motivierte Kriminalität im Jahr 2021, Überblick Fallzahlen; BT-Drs. 20/772.