- 2022 hat BEFORE in 359 Beratungsfällen 465 Betroffene begleitet.
- Die Möglichkeiten für Betroffene, sich gegen Diskriminierungen zu wehren, müssen verbessert werden.
- Kinder und Jugendliche werden zum Ziel von Anfeindungenund Angriffen.
München, 6. Juni 2023 – BEFORE hat im Jahr 2022 in 359 Beratungsfällen Betroffene von rechter, gruppenbezogen menschenfeindlicher Gewalt und Diskriminierungen unterstützt. Diese Zahl zeigt: Ausgrenzung und Übergriffe sind auch in München ein großes Problem.
Die Zahl der Beratungsfälle bei BEFORE ist 2022 im Vergleich zum Vorjahr um rund 15 Prozent gestiegen und erreicht damit ein neues Allzeit-Hoch. Insgesamt begleiteten die Mitarbeitenden 465 Ratsuchende, so viele wie noch nie innerhalb eines Jahres. Gleichzeitig zeigen Erfahrungswerte, dass es noch viel mehr Fälle von Diskriminierungen und entsprechenden Gewalttaten gibt, in denen die Betroffenen nicht in die Beratung kommen: Die Stadtgesellschaft muss von einer hohen Dunkelziffer ausgehen.
Schwerpunkte der Antidiskriminierungsberatung
Die Antidiskriminierungsberatung bei BEFORE hat 2022 in insgesamt 184 Fällen 243 Ratsuchende unterstützt, damit wurden auch in diesem Jahr mehr Betroffene von Diskriminierungen beraten als zuvor.
Seit Gründung von BEFORE steigt dieser Bedarf permanent an – 2019 waren es noch 150 Fälle, welche die Berater*innen begleiteten. Das zeigt: Eine große Zahl von Münchner*innen sind von Diskriminierungen betroffen und brauchen Unterstützung. Außerdem ist ein wachsender Teil der Stadtgesellschaft für das Thema sensibilisiert, mehr Betroffene gehen aktiv gegen Diskriminierungen vor und Anlaufstellen wie BEFORE werden sichtbarer.
Der Schutz von Betroffenen vor Diskriminierungen in Deutschland ist lückenhaft und unzureichend. Es wird höchste Zeit, dass die Bundesregierung das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) überarbeitet und Betroffenen damit die Möglichkeit gibt, sich zu wehren. Die Bundesregierung hat angekündigt, bald einen ersten Entwurf für ein neues AGG vorzustellen. Damit das neue Gesetz wirklich ein großer Wurf und kein folgenloses „Reförmchen“ wird, begleitet BEFORE im zivilgesellschaftlichen Bündnis „AGG-Reform – Jetzt!“ den Prozess und stellt Forderungen aus der Praxis der Antidiskriminierungsberatung vor.
In unserer Beratungsarbeit sehen wir neben anderen Aspekten besonders akuten rechtlichen Verbesserungsbedarf an drei Stellen: der fehlende Schutz vor Diskriminierungen durch staatliche Stellen, der Bedarf nach einem Verbandsklagerecht und die zu kurzen Fristen für eine Geltendmachung nach dem AGG.
Eine solche Option würde unter anderem Betroffenen helfen, die als Arbeitnehmende schwanger werden und sich deshalb Diskriminierung ausgesetzt sehen, indem sie zum Beispiel bei Stellenbesetzungen und Beförderungen nicht berücksichtigt werden. So erhielt eine Betroffene und langjährige Mitarbeiterin in einem Unternehmen, die sich an BEFORE gewandt hat, nach Preisgabe ihrer Schwangerschaft, die in Aussicht gestellte Beförderung nicht. Nach langen Abwägungen und Beratungen, entschied sie sich trotz der klaren rechtlichen Lage des Falls dagegen, den Arbeitgeber zu verklagen aus Angst, die eigene Stelle zu verlieren. Als alleinerziehende Mutter ohne Kitaplatz fürchtet sie, in einer Armutsfalle zu landen und ihre Familie nicht mehr versorgen zu können. Sie sieht sich in einer Spirale von struktureller Diskriminierung, der Frauen im Allgemeinen und alleinerziehende Mütter mit wenigen finanziellen Ressourcen im Speziellen ausgesetzt sind. Die Risiken, die mit einer rechtlichen Intervention einhergehen, kann sie sich wortwörtlich nicht leisten.
Schwerpunkte der Betroffenenberatung rechte, gruppenbezogen menschenfeindliche Gewalt
Die Betroffenenberatung rechte, gruppenbezogen menschenfeindliche Gewalt bei BEFORE beriet im Jahr 2022 in 175 Fällen insgesamt 222 Betroffene. Eine gleichbleibend hohe Zahl dieser Fälle spielte sich im Wohnumfeld der Betroffenen ab. Sie wurden zum Beispiel von Nachbarn beschimpft, bedroht oder attackiert, in einigen Fällen wurden sogar Kinder und Jugendliche zum Ziel.
Betroffene dieser Angriffe sind gefangen in einer für sie äußerst belastenden und mitunter auch gefährlichen Situation. Anstatt in ihrem privaten Rückzugsraum geschützt zu sein, sind sie Nachstellungen, Bedrohungen und Angriffen ausgesetzt. Tagtäglich müssen sie Konfrontationen mit den Täter*innen fürchten und um ihre Sicherheit und die ihrer Familie bangen. Leider spielen Vermieter*innen und Hausverwaltungen diese Angriffe oft herunter und leugnen ihren gruppenbezogen menschenfeindlichen Hintergrund, indem sie sie etwa als „Nachbarschaftskonflikte“ darstellen und entsprechend unangemessen mit ihnen umgehen.
Matthias Schmidt-Sembdner, Berater in der Betroffenenberatung rechte, gruppenbezogen menschenfeindliche Gewalt bei BEFORE, betont: „Die Belastung für die Betroffenen bei Übergriffen im Wohnumfeld ist immens, besonders weil es täglich zur Konfrontation mit den Täter*innen kommen kann. Aus der Beratungspraxis wissen wir, wie wichtig eine solidarische Haltung von anderen Nachbar*innen und Vermieter*innen ist – und wie sehr sich bei Betroffenen Gefühle der Ohnmacht und Verzweiflung festigen, wenn diese fehlt. Werden zum Beispiel rassistische oder antisemitische Attacken von Hausverwaltungen oder Vermieter*innen als alltäglicher Streit unter Nachbar*innen bagatellisiert, wird das eigentliche Problem unsichtbar gemacht und Betroffenen ihre Wahrnehmung abgesprochen. Vermieter*innen müssen für derartige Angriffe sensibilisiert sein, Wohnungsgesellschaften müssen Anlaufstellen etablieren. Dass viele Betroffene letztlich als einzigen Ausweg einen eigenen Umzug sehen, ist nicht hinnehmbar, aber leider immer wieder traurige Realität.“
In einigen Fällen, in denen BEFORE Betroffene berät, richten sich die Angriffe gegen Kinder und Jugendlichen. Sie werden von den Täter*innen beschimpft, bedroht oder gar geschlagen. Im öffentlichen Nahverkehr werden insbesondere Frauen mit kleinen Kindern rassistisch bedroht und angegriffen. Angriffe finden aber auch auf Spielplätzen öffentlicher Grünanlagen oder Wohnanlagen statt.
Anja Spiegler, Beraterin in der Betroffenenberatung rechte, gruppenbezogen menschenfeindliche Gewalt bei BEFORE, unterstreicht die extrem niedrige Hemmschwelle von Angreifer*innen: „Täter*innen schrecken nicht einmal davor zurück, Kinder und Jugendliche zu bedrohen oder Eltern in Begleitung ihrer Kinder anzugreifen. Mit Kinderwagen oder kleinen Kindern im öffentlichen Nahverkehr unterwegs zu sein, macht es Betroffenen auch fast unmöglich, sich einer bedrohlichen Situation zu entziehen. Umso wichtiger ist es, dass Zeug*innen einschreiten und Betroffenen zur Seite stehen“. Für Familien mit Kindern, die im Wohnumfeld rassistischen Angriffen ausgesetzt sind, müssen Vermieter*innen, Hausverwaltungen und Behörden dringend Unterstützung leisten und schnell an Lösungen arbeiten. „Eltern haben durchweg Sorge um die Sicherheit ihrer Kinder. Familien hören auf, Spielangebote in Wohnanlagen zu nutzen und sind gezwungen, sich völlig zurückzuziehen. Betroffene Kinder können Angst- und Schlafstörungen entwickeln“, erläutert Anja Spiegler.
Siegfried Benker, Geschäftsführender Vorstand des BEFORE e.V., konstatiert: „Unsere Beratungsstatistik zeigt es deutlich: München ist eben nicht frei von Diskriminierungen und rechten, rassistischen Übergriffen. BEFORE begleitete 2022 hunderte Bürger*innen nach ihren bedrückenden Erfahrungen, hinter der hohen Dunkelziffer stehen vermutlich noch viele mehr. An diese Zustände darf sich die Stadtgesellschaft nicht gewöhnen, sie müssen ihr ein Auftrag sein, Betroffene zu unterstützen und sich etwa als Zeug*innen bei Übergriffen einzubringen. Werden Sie aktiv und helfen Sie Betroffenen – ob am Arbeitsplatz, in Bildungseinrichtungen oder im Wohnumfeld! Im Oktober sind in Bayern Landtagswahlen: Wir hoffen auf einen Wahlkampf ohne rechte Ausfälle und Versuche, im rechten Fahrwasser zu fischen. Stattdessen gehört eine aktive Auseinandersetzung mit rechter Gewalt und Diskriminierungen auf die politische Tagesordnung: Der Freistaat braucht flächendeckende Beratungsstellen für Betroffene und ein Landesantidiskriminierungsgesetz, das Betroffenenrechte in der Praxis durchsetzt.“
Pressekontakt:
Nähere Informationen zur Beratungsstelle sind auf www.before-muenchen.de einsehbar, für Interviewanfragen wenden Sie sich bitte an presse@before-muenchen.de.