Empfehlungen für konkrete Maßnahmen in den Bereichen Justiz, Innenpolitik und Demokratieförderung
Verbesserter Opferschutz, humanitäres Bleiberecht und effektive Strafverfolgung: Die zukünftige Bundesregierung muss den Schutz vor rassistischer, antisemitischer und rechter Gewalt aus Respekt vor tausenden Betroffenen ernst nehmen und verbessern – durch konkrete Maßnahmen in den Ressorts Inneres, Justiz und Familie.
Berlin, den 22.10.2021
14 Menschen starben in den vergangenen 24 Monaten bei rechtsterroristischen, rassistisch, antisemitischen Attentaten und rechten Botschaftstaten. Dutzende Menschen wurden bei den Attentaten zum Teil schwer verletzt. Die traumatischen Erfahrungen durch den Verlust eines geliebten Menschen und mörderischen Antisemitismus, Rassismus und Rechtsterrorismus hat das Leben der direkt Betroffenen und der angegriffenen Communities für immer verändert. Im gleichen Zeitraum ereigneten sich täglich mindestens drei bis vier antisemitisch, rassistisch und rechtsextrem motivierte Gewalttaten in Ost- und Westdeutschland, über zweitausend Menschen waren davon direkt betroffen. So unterschiedlich die Tatumstände und Betroffenen auch sind: Die allermeisten teilen die Erfahrungen von blockierter und schleppender Strafverfolgung, verweigerter Aufklärung, mangelnder Verantwortungsübernahme, institutionellem Rassismus und Antisemitismus und materieller Not.
Viele Überlebende, Hinterbliebene und Angegriffene antisemitischer, rassistischer und rechter Gewalt und rechtsterroristischer Attentate werden durch die im VBRG e.V. zusammengeschlossenen unabhängigen Beratungsstellen in 14 Bundesländern unterstützt und begleitet. Die nachfolgenden 11 Forderungen wurden aus der langjährigen Beratungspraxis entwickelt, um auf dringend notwendige Verbesserungen im Opferschutz und bei der Bekämpfung von Rechtsterrorismus und rechter Gewalt aufmerksam zu machen.
Materielle Sicherheit ausbauen, EU-Opferschutzrichtlinie umsetzen: Notwendige Verbesserungen im Zuständigkeitsbereich des BMJV:
- Überlebende, Hinterbliebene und Verletzte schwerer rassistischer, antisemitischer und rechtsterroristischer Gewalttaten benötigen eine neu zu schaffende, unbürokratische Grundrente mit einer adäquaten Existenzsicherung. Die geplante Reform des Opferentschädigungsrechts tritt in Deutschland erst im Jahr 2024 in Kraft. Bis dahin werden viele Überlebende und Hinterbliebene rechtsterroristischer, rassistischer und antisemitischer Attentate wie etwa in Hanau ebenso wie Überlebende dschihadistischer Terrorattentate etwa beim Breitscheidplatz-Attentat in Berlin durch bürokratische Hürden insbesondere der Landesversorgungsämter in Armut und soziale Erniedrigung gedrängt. Eine unbürokratische Grundrente muss daher intersektional und ohne Opferkonkurrenz umgesetzt werden. Arbeitnehmer*innen, Studierende, Schüler*innen werden – ohne eigenes Zutun, alleine weil ihnen in der Ideologie der Täter die Existenzberechtigung abgesprochen wird – plötzlich zu Hilfebedürftigen in einem Hilfesystem von Landesversorgungs- und Sozialämtern, das sie zu Bittsteller*innen degradiert und ihre Anliegen oftmals zu langsam und mit institutionellem Rassismus behandelt. Die Unterstützung durch den Opferbeauftragten der Bundesregierung und das Bundesamt für Justiz haben zwar wichtige Signalwirkung, aber sie bieten keine langfristige existenzsichernde Perspektive für ein Leben nach traumatischer Gewalterfahrung in Würde. Eine zukünftige Bundesregierung muss die EU-Opferschutzrichtlinie ernst nehmen!
- Das Bundesjustizministerium und die Justizminister*innen-Konferenz müssen durch entsprechende gesetzliche Regelungen oder Änderungen in den Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren (RiStBV) endlich dafür sorgen, dass Staatsanwaltschaften ohne explizites Einverständnis von Nebenkläger*innen keine schmutzigen Deals mehr mit Neonazi-Gewalttätern – wie etwa im Ballstädt-Prozess in Thüringen – machen können. Bis dahin sind die Justizminister*innen der Länder aufgefordert, von ihrer Weisungsbefugnis gegenüber den Staatsanwaltschaften Gebrauch zu machen, und Deals zu unterbinden sowie eine flächendeckende Berichtspflicht für Staatsanwaltschaften bei schweren neonazistischen Gewalttaten und einer verschleppten Strafverfolgung wie etwa bei Angriffen von bundesweiten Neonazi-Netzwerken u.a. in Chemnitz 2018 einzuführen.
- Betroffene von rassistisch, antisemitisch und rechtsextrem motivierten schweren Sachbeschädigungen und Brandanschlägen müssen einen unkomplizierten Zugang zu Entschädigungsleistungen durch das Bundesamt für Justiz sowie Opferfonds in den Ländern erhalten. Die Angegriffenen stehen nach den Anschlägen auf Restaurants, Lebensmittelgeschäfte, Shisha-Bars oder Imbisse – wie etwa in Niedersachsen, Sachsen, Halle, Hanau und Berlin – buchstäblich vor den Trümmern ihrer wirtschaftlichen Existenz. Bisher gibt es keine Entschädigungsansprüche für zerstörtes Inventar, Renovierungskosten, Sicherungsmaßnahmen oder existenzbedrohende Einnahmeverluste in Folge von Brandanschlägen. Seit 2020 kann lediglich eine Billigkeitsentschädigung beantragt werden, wenn es sich um Tatorte von tödlichen Rechtsterrorismus handelt
- Bislang müssen verletzte Nebenkläger*innen die Fahrtkosten zur Teilnahme an Hauptverhandlungen gegen Tatverdächtige selbst tragen – und sind dabei allzu oft auf solidarische Spendenaktionen vor Ort angewiesen. Denn der Staat übernimmt lediglich die Fahrtkostenerstattung für Angeklagte und für Zeug*innen am Tag ihrer Aussage. Um die Stellung von Nebenkläger*innen zur Teilnahme an Hauptverhandlungen stärken, muss die Fahrtkostenerstattungen für Nebenkläger*innen selbstverständlicher Teil der Umsetzung der EU-Opferschutzrichtlinie sein.
Humanitäres Bleiberecht, Polizeibeschwerdestellen und Rassismus-Studien: Notwendige Verbesserungen im Zuständigkeitsbereich des BMI:
- Eine Erweiterung des Opferschutzes im Aufenthaltsgesetz ist überfällig. Dafür muss die zukünftige Bundesregierung ein Gesetzesvorhaben für ein humanitäres Bleiberecht für Betroffene rassistischer Gewalt ohne festen Aufenthaltsstatus auf den Weg bringen – durch eine Erweiterung von Paragraf 25AufenthG. Es kann nicht sein, dass Täter*innen profitieren, weil abgeschobene Opfer nicht mehr als Zeug*innen in Strafverfahren aussagen können. Im Übrigen verweisen wir darauf, dass das Aufenthaltsgesetz sonst auch immer wieder zur Generalprävention – und allzu oft gegen die Betroffenen rassistischer Gewalt – genutzt wird.
- Es braucht eine unabhängige Polizeibeschwerdestelle auf der Ebene der Bundespolizeien und unabhängige Polizeibeschwerdestellen in allen statt wie derzeit nur in 7 von 16 Bundesländern für Betroffene von polizeilichen Fehlverhalten. Zudem ist die Einigung auf eine bundesweit verbindliche Arbeitsdefinition von institutionellem und strukturellem Rassismus eine Querschnittsaufgabe für die zukünftige Bundesregierung, damit es einen Ausgangspunkt für Fortbildungen, Studien etc. in den Bereichen Polizei, Justiz, Bildung etc. gibt. Eine Orientierung kann die Definition der Rassismus-Enquete-Kommission des Thüringer Landtags bieten. Damit verbunden ist die Notwendigkeit für eine explizite Studie zu Racial Profiling und Rassismus bei den Polizeibehörden des Bundes und der Länder, um das Ausmaß des Problems zu vermessen sowie wirksame Gegenmaßnahmen einzuleiten. Dies wäre ein wichtiger Schritt, um das bei vielen Betroffenen rassistischer und antisemitischer Gewalt erheblich beschädigte Vertrauen in die Strafverfolgungsbehörden – etwa durch die Netzwerke von rechtsextremen Polizisten und Elitesoldaten wie Nordkreuz– wiederherzustellen.
- Ohne eine präzise Erfassung des Ausmaßes von rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt sind weder effektive Strafverfolgung noch Prävention möglich. Trotz der Reformen bei der polizeilichen Erfassung von so genannter „politisch motivierter Kriminalität“ (PMK) ist die Erfassungslücke zum Ausmaß rechter Gewalt erheblich. Während die Opferberatungsstellen in acht Bundesländern für das Jahr 2020 mindestens 1.322 rechte Gewalttaten erfasst haben, geht das BKA nach Meldungen der Landeskriminalämter für 16 Bundesländer lediglich von 813 PMK Rechts Gewalttaten aus. Eine zukünftige Bundesregierung muss ausdrückliche Ermittlungs- und Dokumentationspflichten in der RiStBV verankern, die Ermittlungsbehörden verpflichten, bei Verdachtsfällen eventuellen rechten Tathintergründen nachzugehen und diese gegebenenfalls aktiv auszuschließen. Befragungen der Betroffenen durch die ermittelnden Beamt*innen müssen, wie auch in der EU-Opferschutzrichtlinie gefordert, so durchgeführt werden, dass sekundäre Traumatisierungen nach Möglichkeit vermieden werden. Zudem braucht es eine unabhängige Studie zum Ausmaß und den Ursachsen der Diskrepanz zwischen den Statistiken der Opferberatungsstellen und den PMK Jahresbilanzen des BKA sowie eine unabhängige wissenschaftliche Studie zur Anwendung des reformierten PMK Erfassungskriterienkatalogs seit 1/2017 durch die 16 Länderpolizeien und eine Veröffentlichung des bislang als „VS NfD – Verschlusssache nur für den Dienstgebrauch“ eingestuften vollständigen Kriterienkatalogs.
- Nachbesserungen zum Schutz von Betroffenen von Feindeslisten: Personen, deren persönliche Daten auf rechten „Feindeslisten“ stehen, müssen sofort und vollumfänglich durch die Strafverfolgungsbehörden darüber informiert werden, welche Daten von ihnen gesammelt und wo sie verbreitet wurden. Nur so können die Betroffenen ihre Gefährdung objektiv einschätzen und selbst entscheiden, welche Schutzmaßnahmen sie ergreifen wollen. Betroffene müssen an die fachspezifischen, unabhängigen Beratungsstellen vermittelt werden. Nicht zuletzt aufgrund der zahlreichen Fälle von Rechtsextremismus in den Strafverfolgungsbehörden ist dieser Verweis zwingend notwendig. Strafverfolgungsbehörden müssen von Amts wegen eine Auskunftssperre im Melderegister veranlassen, wenn „Feindeslisten“ etwa bei Durchsuchungen gefunden werden. Dieses Vorgehen zum Schutz von Betroffenen sieht § 51 Bundesmeldegesetz zwar ohnehin vor, wird aber in der Praxis nur selten umgesetzt. Für einen verbesserten Schutz der persönlichen Daten von Betroffenen neonazistischer Feindeslisten muss der neu eingeführte §126a StGB erweitert werden.
Demokratiefördergesetz als Notwendigkeit: Notwendige Verbesserungen im Zuständigkeitsbereich des BMFSFJ und der Demokratieförderung:
- Eine dauerhafte Absicherung der Arbeit von Beratungsstellen wie den Opferberatungsstellen, Mobilen Beratungsteam und der Antidiskriminierungsberatung ist ein wichtiges Zeichen der Solidarität des Staates mit den Betroffenen von Antisemitismus, Rassismus, Diskriminierung und Rechtsextremismus. Eine zukünftige Bundesregierung muss durch ein Demokratiefördergesetz sicherstellen, dass die wichtige Arbeit der Beratungsprojekte und ihrer Kooperationspartner*innen im Bund und den Ländern dauerhaft abgesichert sind.
- Der flächendeckende Auf- und Ausbau der Beratungsstellen für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in den westdeutschen Bundesländern sowie eine Absicherung durch Bundesmittel für alle Opferberatungsstellen muss gewährleistet sein. Noch immer sind die Opferberatungsstellen u.a. in den Bundesländern Baden-Württemberg, Bayern und Hessen nicht mit einer Finanzierung ausgestattet, die eine flächendeckende, aufsuchende, pro-aktive und professionelle Beratung für alle Betroffenen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt ermöglichen würde. Dementsprechend wird hier eine dauerhafte Aufstockung an Bundes- und Landesmitteln benötigt. Darüber hinaus besteht immer und anhaltend die Gefahr, dass die Opferberatungsstellen als parteiliche Interessensvertreter*innen von Betroffenen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt nach Landtagswahlen in Ostdeutschland, bei denen die AfD entweder als Koalitionspartner an einer Landesregierung beteiligt wird oder eine Minderheitenregierung duldet, ihre jeweilige Finanzierung durch das jeweilige Bundesland verlieren. Als Zeichen solidarischer staatlicher Unterstützung für Betroffene rassistischer, antisemitischer und rechter Gewalt ist eine dauerhafte, abgesicherte Finanzierung der Beratungsarbeit der Opferberatungsstellen aus Bundesmitteln dringend notwendig.
- Notfallfonds für die Beratung und Begleitung von Betroffenen rechtsterroristischer Attentate und adäquate Erhöhung der Ressourcen der jeweiligen Opferberatungsstellen. Die Verletzten, Überlebenden, Zeug*innen und Angehörigen der Betroffenen rechtsterroristischer Attentate benötigen mittel- und langfristige unabhängige und professionelle, fachspezifische Begleitungs- und Beratungsangebote vor Ort bei der Bewältigung des Erlebten und der Angriffsfolgen. Hierfür bedarf es eines Notfallfonds, den das BMFSFJ im Bedarfsfall kurzfristig den jeweiligen Opferberatungsstellen zur Verfügung stellt, um eine kurzfristig adäquate Beratungsstruktur nach einem rechtsterroristischen Attentat zu gewährleisten sowie eine unkomplizierte Regelung zur Erhöhung der personellen Ressourcen der jeweiligen Opferberatungsstellen zur mittel- und langfristigen Begleitung der Betroffenen rechtsterroristischer Attentate.
Für Rückfragen und weitere Informationen:
Robert Kusche, Mitglied im Vorstand des VBRG e.V. und Geschäftsführer der RAA Sachsen e.V., E-Mail: robert.kusche@raa-sachsen.de
Heike Kleffner, Geschäftsführerin VBRG e.V., E-Mail: h.kleffner@verband-brg.de
Download: 11 Empfehlungen für konkrete Maßnahmen in den Bereichen Justiz, Innenpolitik und Demokratieförderung
Download: Pressemitteilung vom 25.10.2021 als PDF