Presseerklärung: „Unterstützung habe ich vor allem bei der Opferberatungsstelle gefunden“ – Studie verdeutlicht Notwendigkeit
fachspezifischer Beratung für Gewaltopfer von Hasskriminalität

Eine neue Studie zum Ausmaß von sekundärer Viktimisierung von Betroffenen rechter, rassistischer, antisemitischer und sexualisierter Gewalt offenbart besorgniserregende Mängel bei Polizei und Justiz. Die Studie bestätigt die Ergebnisse europäischer Vergleichsstudien und den dringenden Bedarf der Sicherung und des Ausbaus der fachspezifischen Gewaltopferberatungsstellen.

Mit der Studie Sekundäre Viktimisierung von Betroffenen rechter, rassistischer, antisemitischer und sexualisierter Gewalt – Fokus: Polizei und Justiz liegt erstmals eine umfangreiche empirische Untersuchung zur erneuten „Opferwerdung nach der Tat“ durch staatliche Institutionen vor. Neben Erfahrungen von Betroffenen im Kontakt mit der Polizei wirft die Studie auch ein erstes Schlaglicht auf Erfahrungen von Gewaltopfern im Kontakt mit der Justiz.

82 Prozent der Befragten bemängelten, dass rechte Tatmotive bei den polizeilichen Ermittlungen nicht berücksichtigt wurden, zudem fühlten sich mehr als die Hälfte der Befragten durch Polizeibeamt*innen in ihrer Würde verletzt. Zwei Drittel der Befragten stimmten der Aussage zu, sie seien von Polizist*innen „wie ein Mensch zweiter Klasse“ behandelt worden. Generell wurde die Kommunikation mit der Polizei von 66 Prozent als „schwierig“ empfunden. Besonders gravierend: Immer wieder wurde eine Täter-Opfer-Umkehr wahrgenommen, mit der den Betroffenen zumindest eine Mitverantwortung an Angriffen zugewiesen wird.

Trotz der Unterschiede der Studienteilnehmenden hinsichtlich ihrer Lebensumstände der jeweiligen Gewalterfahrungen sowie der Tatmotive gibt es große Übereinstimmungen in Bezug auf die Erfahrungen mit sekundärer Viktimisierung durch Polizei und Justiz. Die Studienergebnisse decken sich mit den Ergebnissen der Europäischen Grundrechteagentur in ihrem Bericht „Encouraging Hate Crime Reporting: The Role of Law Enforcement Agencies“ in 2021 [1]: „Die Art und Weise, wie die Polizei reagiert, wenn Opfer Straftaten melden, wirkt sich auf das Vertrauen in die Polizei aus.“ „Angst vor oder mangelndes Vertrauen in die Polizei“ sei ein wichtiger Grund für mehr als ein Viertel aller jüdischen und LGBTIQ*-Befragten, einen gewalttätigen antisemitischen oder queerfeindlichen Angriff nicht zur Anzeige zu bringen, so die Studie der Grundrechteagentur.

Aus den Daten der Grundrechteagentur geht auch hervor, dass die meisten Befragten, die von Hassverbrechen betroffen waren, mit der Reaktion der Polizei unzufrieden waren. Zum Beispiel war die überwältigende Mehrheit der muslimischen Befragten, die eine vorurteilsmotivierte Körperverletzung zur Anzeige gebracht hatten, entweder sehr oder eher unzufrieden mit der Art und Weise, wie die Polizei sie behandelt hatte (81Prozent). Die überwältigende Mehrheit der Personen of Colour mit einer Herkunft aus der Subsahara-Region, die rassistische Gewalt zur Anzeige gebracht hatten, war ebenfalls unzufrieden mit der Art und Weise, wie ihre Anzeige bei der Polizei bearbeitet wurde. (Frauen, 93 Prozent; Männer, 69 Prozent).[2]

Der Rechtsstaat lässt die Angegriffenen im Stich

Die neue Studie für Deutschland zeigt zudem auch ein hohes Maß an Verfahrenseinstellungen durch Staatsanwaltschaften nach Strafanzeigen von Betroffenen von rechten, rassistischen, antisemitischen und sexualisierten Angriffen auf. In den wenigen Fällen, in denen es zu einer Anklageerhebung kam, berichteten die Betroffenen überwiegend, dass ihr Wunsch nach Gerechtigkeit – in Form einer juristischen Verhandlung bzw. Bestrafung der Täter*innen – nicht erfüllt wurde. Richter*innen hätten teilweise Sympathien für die Täter*innen gezeigt, unnötige Begegnung mit Täter*innen wurden nicht verhindert.  Zwei Drittel der Betroffenen mit Justizkontakt stimmten der Aussage zu, durch die Justiz erneut eine Viktimisierung erfahren und geschädigt worden zu sein.

„Die Ergebnisse der Studie entsprechen unseren Erfahrungen als fachspezifische Gewaltopferberatung: Seit Jahren weisen wir auf die fatalen Auswirkungen sekundärer Viktimisierung durch Strafverfolgungsbehörden hin, die die Betroffenen zusätzlich zu den unmittelbaren Tatfolgen zu verarbeiten haben“, erklärt Theresa Lauß, Beraterin bei der Thüringer Gewaltopferberatungsstelle ezra. „Zudem unterstreicht die Untersuchung, dass Betroffene vom Rechtsstaat im Stich gelassen werden. Unsere Beratungserfahrung zeigt auch, dass viele Ermittlungsverfahren verschleppt und letztlich eingestellt werden. Kommt es zu Gerichtsverhandlungen stellen wir eine starke Zentrierung auf die Täter*innen fest, Betroffene werden nur in Ausnahmefällen adäquat geschützt – immer noch mangelt es an Bereitstellung eines Zeug*innenschutzraumes in vielen Gerichten. Es bedarf dringend einer stärkeren Sensibilisierung bei Polizei und Justiz, um sekundäre Viktimisierung zu vermeiden“, sagt Theresa Lauß von ezra.

Sekundäre Viktimisierung: Zum Beispiel durch Polizei und Justiz in Erfurt

Beispielhaft für die Praxiserfahrung der Gewaltopferberatungsstellen steht der sogenannte Herrenberg-Prozess zum brutalen rassistischen Angriff auf drei junge Männer im gleichnamigen Erfurter Stadtteil am 1.8.2020: Der Notruf eines Betroffenen bei der zuständigen Leitstelle der Thüringer Polizei während der Verfolgungsjagd durch die Neonazis wurde nicht ernstgenommen, ein Dolmetscher zur ersten polizeilichen Vernehmung stand nicht zur Verfügung und in der Hauptverhandlung wurden die Betroffenen mit klassischer Täter-Opfer-Umkehr durch die Verteidigung der Angeklagten konfrontiert. Dreieinhalb Jahre nach der Tat ist das Urteil vom 15.5.2023 vom Landgericht Erfurt zudem noch nicht rechtskräftig, da nach Revisionsanträgen eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs auf sich warten lässt.

Dr. Janine Dieckmann, stellvertretende wissenschaftliche Leiterin des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ), betont die Bedeutung der Studie: „Die Ergebnisse der Studie geben einen Einblick, was Betroffene auch nach der eigentlichen Tat noch an diskriminierenden Erfahrungen in Behörden machen müssen. Das beginnt oftmals mit der ungleichen Behandlung durch Polizist*innen am Tatort und hört auch bei der Verhandlung im Gerichtssaal – wenn es überhaupt dazu kommt – nicht auf.“

Unentbehrlich: Effektive Unterstützung durch fachspezifische Gewaltopferberatungsstellen

Als effektive Unterstützungsformen bei der Bewältigung von Tatfolgen wurden von den Befragten insbesondere Gespräche im sozialen Umfeld (65 Prozent) sowie an zweiter Stelle professionelle Unterstützung, u. a. von Opferberatungsstellen und dem Angebot psychosozialer Beratung genannt. Die Studie macht deutlich, dass fachspezifische Gewaltopferberatungsstellen eine elementare Lücke für Betroffene von Gewaltstraftaten im Kontext von Antisemitismus, Rassismus und Rechtsterrorismus füllen, die auf strukturellen Problemen in den Strafverfolgungs- und Justizbehörden beruht. Ein aktuelles Beispiel ist die verschleppte Strafverfolgung von zwei Dutzend Neonazis nach gewalttätigen Angriffen am 1.9.2018 in Chemnitz. Erst fünf Jahre nach den Neonazi-Angriffen auf zivilgesellschaftliche Gegendemonstrant*innen beginnt am 10.12.2023 am Landgericht Chemnitz der erstinstanzliche Prozess gegen einen Teil der Angeklagten. Über fünf Jahre haben die Angegriffen mit Hilfe der Opferberatungsstellen SUPPORT der RAA Sachsen, response in Hessen und des VBRG darum kämpfen müssen, dass es überhaupt zu einer Hauptverhandlung kommt.

Vor dem Hintergrund der langen Verfahrensdauern zwischen Angriff und Hauptverhandlungen ist es besonders wichtig, dass fachspezifische Opferberatungsstellen als kontinuierliche Ansprechpartner*innen und Anlaufstellen für die Verletzten gestärkt werden“, betont Heike Kleffner, Geschäftsführerin des VBRG e.V. „Es ist besorgniserregend, dass dennoch nur ein Viertel der Befragten von den Beamt*innen auf die fachspezifischen Angebote hingewiesen wurden. Die aktuelle Studie sowie die Ergebnisse der Europäischen Grundrechteagentur sind ein weiterer Beleg dafür, dass es trotz der EU-Opferschutzrichtlinie und dem Opferrechtsreformgesetz in Deutschland sowohl bei Polizei und Justiz kaum Fortschritte und Sensibilität für die Prävention von sekundärer Viktimisierung gibt. Dabei wäre dies ein Schlüssel zur Bekämpfung von der aktuellen Eskalation insbesondere rassistischer und antisemitischer Bedrohungen und Gewalt.“

Downloads

Presseerklärung 6.12.2023 (PDF)

Studie – Sekundäre Viktimisierung 2023

Vorherige Studie – „Die haben uns nicht ernstgenommen“

Kontakte für Rückfragen

Hintergrund und weitere Informationen zur Studie 

Die Studie untersucht die sekundäre Viktimisierung von Betroffenen rechter, rassistischer, antisemitischer und sexualisierter Gewalt. Der Begriff der Viktimisierung beschreibt den – auf mehreren Ebenen verlaufenden – Prozess des „Zum-Opfer-Werdens“. Primäre Viktimisierung bezeichnet die ‚eigentliche Opferwerdung‘, also die Schädigung einer oder mehrerer Personen durch einen oder mehrere Täter*innen. Eine sekundäre Viktimisierung kann im Anschluss daran entstehen und bezeichnet eine erneute Schädigung der Betroffenen z. B. durch Fehlreaktionen durch Polizei, Staatsanwaltschaft oder Gericht.

Die aktuelle Studie folgt auf die im Jahr 2014 veröffentlichte Studie „Die haben uns nicht ernst genommen“ (Quent/Geschke/Peinelt 2014), die gemeinsam mit Betroffenen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Thüringen und der Opferberatungsstelle ezra erarbeitet wurde. Schwerpunkte waren maßgeblich die Erfahrungen von Betroffenen im Umgang mit der Polizei. Um das Themenfeld ausführlicher zu untersuchen, Handlungsbedarfe zu identifizieren und notwendige Gegenmaßnahmen abzuleiten, wurden für die nun vorliegende Studie Einzel- und Gruppen-Interviews mit Betroffenen und Fachexpert*innen sowie eine deutschlandweite Online-Befragung von Betroffenen von rechter, rassistischer, antisemitischer und sexualisierter Gewalt durchgeführt. So konnten wichtige Einblicke in die Erfahrungen mit sekundärer Viktimisierung und die Auswirkungen der Reaktionen von Polizei, Staatsanwaltschaften, Gerichten sowie dem sozialen Umfeld der Betroffenen und Opferberatungsstellen analysiert und systematisiert werden.

Die Studie wurde vom Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) in Kooperation mit Praxispartner*innen aus den professionellen Opferberatungsstellen (u. a. ezra in Thüringen) und deren Dachverband, dem Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemischer Gewalt (VBRG) durchgeführt.

Quellen 

[1] European Union Agency for Fundamental Rights (2021): ENCOURAGING HATE CRIME REPORTING. THE ROLE OF LAW ENFORCEMENT AND OTHER AUTHORITIES. (online)

[2] European Union Agency for Fundamental Rights (2021): ENCOURAGING HATE CRIME REPORTING. THE ROLE OF LAW ENFORCEMENT AND OTHER AUTHORITIES. (online)