Presseerklärung: Der Rechtsstaat hat die Betroffenen eines schweren Neonazi-Angriffs am 1. September 2018 in Chemnitz über 5 Jahre im Stich gelassen.“

Zum Prozessbeginn am Montag, den 11. Dezember 2023 am Landgericht Chemnitz fünfeinhalb Jahre nach den schweren Neonazi-Angriffen auf mehr als ein Dutzend zivilgesellschaftliche Gegendemonstrant*innen am 1. September 2018 kritisieren Nebenklagevertreter*innen und Opferberatungsstellen das Desinteresse der sächsischen Justiz an einer der Schwere der Taten angemessenen Strafverfolgung.

„Die katastrophale juristische Aufarbeitung der Welle rassistischer und rechter Gewalt im September 2018 in Chemnitz entmutigt die Angegriffenen und stärkt militante Neonazinetzwerke“

Dresden/Kassel/Berlin, den 7.12.2023

Von ursprünglich 28 tatverdächtigen Neonazis und rechten Kampfsportaktivisten aus dem gesamten Bundesgebiet, die am 1. September 2018 in Chemnitz gezielt Jagd auf mutmaßliche Teilnehmer*innen der „Herz statt Hetze“ Kundgebung gemacht und mehrere Personen – darunter eine Gruppe aus Marburg – verletzt hatten, müssen sich fünfeinhalb Jahre später nunmehr lediglich sieben Angeklagte aus Dortmund, Sachsen und Niedersachsen vor dem Landgericht Chemnitz wegen Landfriedensbruch und gefährlicher Körperverletzung verantworten. Darunter sind mehrfach vorbestrafte gewalttätige Neonazis aus Braunschweig und Dortmund, die durch einschlägige Szene-Verteidiger vertreten werden. Zwei der angeklagten Neonazis sind vor Prozessbeginn untergetaucht und befinden sich auf der Flucht.

„Die sächsische Justiz hat die Betroffenen rechter Gewalt zum wiederholten Mal im Stich gelassen“, kritisiert Nebenklagevertreterin Dr. Kati Lang aus Dresden. „Dass auch aufgrund der Trägheit von Strafverfolgungsbehörden und Gerichten in Sachsen schlussendlich keine wirkungsvollen Verfahren mehr stattfinden, ist inzwischen eine traurige Normalität.“

„Der gezielte Angriff von organisierten Rechten und militanten Neonazis auch auf eine Gruppe von Bürgerinnen und Bürgern aus meinem Wahlkreis in Marburg-Biedenkopf, die sich friedlich gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit an der Kundgebung „Herz statt Hetze“ beteiligten, liegt nunmehr fünf Jahre zurück. Es ist immer noch erschreckend, wie viele Menschen keine Hemmungen haben gewaltsam regelrecht Jagd auf bestimmte Gruppen zu machen. Das lange Warten der Opfer auf diesen Prozessbeginn ist nicht zu erklären“, sagt Sören Bartol, Bundestagsabgeordneter der SPD.  Es sei daher „umso notwendiger, dass der Rechtsstaat und insbesondere die sächsische Justiz hier Vertrauen zurückgewinnt. Denn das Engagement sich aktiv gegen rechte Gewalt, Antisemitismus und Rassismus zu stellen, ist notwendiger denn je,“ betont Sören Bartol. „Ich bin den spezialisierten Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt, wie hier SUPPORT, RAA Sachsen, response Hessen sowie des VBRG sehr dankbar für ihr unermüdliches Engagement und ihre aktive Unterstützung insbesondere der Opfer.“

„Die Betroffenen erhoffen sich von dem Verfahren Aufklärung darüber, wie sich der rechte Mob organisiert und koordiniert hat. Wer waren die Rädelsführer? Wie hat die bundesweite Vernetzung im Vorfeld der Demonstration und dann bei den Hetzjagden in Chemnitz funktioniert?“, sagt Nebenklagevertreter Onur Özata. „Der Prozess wird zeigen, ob rechte Gewalt tatsächlich in unserem Land ernst genommen wird. Die schleppenden Ermittlungen sprechen bislang nicht dafür.“ 

„Das Landgericht muss die große Belastung der Betroffenen durch die lange Wartezeit und die bekannte Gewalttätigkeit der Angeklagten bei der Verfahrensführung berücksichtigen“, fordern die Opferberatungsstellen response Hessen und SUPPORT der RAA Sachsen. „Eine konsequente Strafverfolgung rechter Gewalttaten und eine entsprechende Urteilsverkündung ist für die politische Positionierung der Stadt Chemnitz und den gesellschaftlichen Kampf für demokratische Werte in Sachsen unerlässlich,“ sagt André Löscher von der Opferberatungstelle SUPPORT der RAA Sachsen.

„Die katastrophale juristische Aufarbeitung der Welle rassistischer und rechter Gewalt im September 2018 in Chemnitz entmutigt die Angegriffenen und stärkt militante Neonazinetzwerke“, betont der Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG e.V.). „Der Prozess am Landgericht Chemnitz ist von besonderer bundesweiter Bedeutung: Denn die Verharmlosung des offensichtlichen Schulterschlusses militanter Neonazis mit der rechtsextremen AfD und der Neonazipartei Freie Sachsen am 1. September 2018 hatte schon fatale Konsequenzen – es war der Ausgangspunkt für den rechtsterroristischen Mord an Walter Lübcke und die Anschlagspläne der rechtsterroristischen Gruppe Revolution Chemnitz. 

Zum Hintergrund des Verfahrens und dem Desinteresse der sächsischen Justiz: Am Rande des Aufmarschs vom 1. September 2018 von über 10.000 Aktivisten und Anhänger*innen der extremen Rechten in Chemnitz – darunter die Führungsriege der rechtsextremen AfD, der Neonazi-Kleinstpartei Freie Sachsen und militante Neonazis aus dem gesamten Bundesgebiet – verübte eine Gruppe von mehr als zwei Dutzend organisierten Neonazis und rechten Kampfsportaktivisten aus dem gesamten Bundesgebiet gezielte Angriffe auf antirassistische Gegendemonstrant*innen. Sie verletzten mehrere Personen. Nach Strafanzeigen einiger Nebenkläger und Verletzter ermittelte die Staatsanwaltschaft zunächst gegen 28 mutmaßlich tatbeteiligte Neonazis aus dem gesamten Bundesgebiet und erhob Anklage wegen Landfriedensbruch in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zum Landgericht Chemnitz. Die Generalstaatsanwaltschaft Dresden hat die Strafverfolgung gegen das Neonazi-Netzwerk in drei verschiedene Verfahren zu je neun Angeschuldigten aufgetrennt. Gegen sieben Neonazis wurde vor Prozessbeginn eingestellt – davon in fünf Fällen gegen Geldauflagen für die tatbeteiligten Neonazis und in weiteren zwei, weil die Neonazis in anderen Verfahren schon verurteilt wurden. Die Einstellungen gegen Geldauflage nach § 153a StPO erfolgten mit Zustimmung von Staatsanwaltschaft und Gericht, die durch die Zahlung das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung für erledigt ansahen.

Die nunmehr am 11. Dezember 2023 beginnende Hauptverhandlung betrifft eines von drei beim Landgericht Chemnitz anhängigen Verfahren. In den beiden anderen Verfahren steht die Terminierung der Hauptverhandlung immer noch aus.

Die Hauptverhandlung am Landgericht Chemnitz sind derzeit wie folgt terminiert:

Prozessbeginn: 11.12.2023 9:00 Uhr

13.12.2023 9:00 Uhr

18.12.2023 9:00 Uhr

19.12.2023 9:00 Uhr

05.01.2023 9:00 Uhr

09.01.2023 9:00 Uhr

18.01.2023 9:00 Uhr

19.01.2023 9:00 Uhr

24.01.2023 9:00 Uhr

25.01.2023 9:00 Uhr

31.01.2023 9:00 Uhr

Für weitere Informationen und Rückfragen stehen Ihnen die Nebenklagevertreter*innen und Opferberatungsstellen in Sachsen und Hessen gerne zur Verfügung:

Opferberatung SUPPORT

Mail: opferberatung.chemnitz@raa-sachsen.de

Telefonnummer: 0371 4819451/ 0172 9743674

Opferberatung response

Mail: Presse.response@frankfurt-evangelisch.de

Telefonnummer: 01523 7610896

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