Sächsische Justiz versagt bei Ahndung schwerer rechter Gewalttaten im Kontext der AfD-Mobilisierung am 1. September 2018 in Chemnitz

„Durch die verschleppte Strafverfolgung und die Hauptverhandlung mussten wir unfreiwillig lernen, dass Neonazis von der Justiz in Sachsen nichts zu befürchten haben, wenn sie in einem Mob auf politische Gegner*innen losgehen.“

Chemnitz/ Berlin, 22.01.2024

Fünfeinhalb Jahre nachdem mehr als zwei Dutzend organisierte Neonazis am Rand einer von AfD-Spitzenpolitikern angeführten Demonstration in Chemnitz am 1. September 2018 mehrere Personen verletzt hatten, hat das Landgericht Chemnitz in erster Instanz am Freitag, den 19. Januar 2024 das Strafverfahren gegen drei von ursprünglich neun Neonazis und andere Rechten gegen die Zahlung einer Geldbuße von 1.000 Euro nach Paragraf 153a Strafprozessordnung eingestellt. Sie waren wegen Landfriedensbruchs und gefährlicher Körperverletzung angeklagt.

Die Einstellung war den Angeklagten durch die Generalstaatsanwaltschaft Sachsen angeboten worden. Die Angeklagten im Alter von 27 bis 44 Jahren aus Sachsen und Niedersachsen räumten lediglich in standardisierten Sätzen pauschal ihre Teilnahme an mehreren Angriffen auf antirassistische Gegendemonstrant*innen ein und verließen den Gerichtssaal mit einem zufriedenen Lächeln. Schon vor Prozessbeginn waren zwei angeklagte Neonazis untergetaucht. Gegen zwei der ursprünglich Mitangeklagten war das Verfahren bereits vor Prozessbeginn eingestellt worden. Am ersten Verhandlungstag erschien auch der ebenfalls angeklagte Braunschweiger Neonazi Pierre B. nicht vor Gericht, er gab an, sich in einer psychiatrischen Klinik zu befinden. Ein weiterer Angeklagter hatte sich am zweiten Prozesstag eingelassen und erhielt ebenfalls eine Einstellung gegen eine Geldauflage von 1.000€.

„Neonazis haben in Sachsen nichts zu befürchten.“

In der Beweisaufnahme vor dem Landgericht Chemnitz hatten an acht Verhandlungstagen ein Dutzend angegriffene Frauen und Männer vor allem aus Sachsen und Hessen als Zeug*innen und Nebenkläger*innen berichtet, wie sie am 1. September 2018 als Teilnehmer*innen der „Herz statt Hetze“ Kundgebung aus dem Nichts und ohne Vorwarnung von Neonazis, die u.a. mit Knüppeln bewaffnet waren, angegriffen und verletzt wurden. Die Nebenkläger*innen und Zeug*innen beschrieben auch, wie sehr sie die lange Verfahrensdauer von über fünfeinhalb Jahren belastete: „Ich habe durch die verschleppte Strafverfolgung und die Hauptverhandlung unfreiwillig lernen müssen, dass Neonazis von der Justiz in Sachsen nichts zu befürchten haben, wenn sie in einem Mob auf politische Gegner*innen losgehen. Diese Lehre wird mich auch in Zukunft begleiten“, lautet das bittere Resümee eines Nebenklägers.

Doch in ihren Einlassungen am 8. Verhandlungstag hatten die drei verbliebenen Angeklagten Marcel W., Mark B. und Timo B. mit ihren taktischen und emotionslosen Einlassungen nichts zur Aufklärung des Geschehens beigetragen. Sie räumten lediglich ein, ein Teil des gewalttätigen rechten und rassistischen Mobs gewesen zu sein, von Straftaten mitbekommen und sich nicht distanziert zu haben. Angaben zu weiteren Mittätern und Planungen der Gruppe unterließen sie.

Für drei noch ausstehende Hauptverhandlungen gegen mindestens 16 weitere angeklagte Neonazis und andere Rechte – darunter vier nach Jugendstrafrecht Angeklagte – gibt es von Seiten der sächsischen Justiz bislang noch nicht einmal Terminvorschläge.

Ein fatales Signal

„Bei den organisierten rechten Angriffen handelte es sich um eine klassische Neonazi-Strategie von Feindmarkierung und Durchsetzung rechter Hegemonie durch Gewalt“, sagt Rechtsanwältin und Nebenklagevertreterin Kristin Pietrzyk. „Mit der Entscheidung des Landgerichts wird die Dimension der Angriffe verharmlost und die Neonazi-Strategie ignoriert.“

„Die juristische Aufarbeitung der rassistischen Hetzjagden aus dem Sommer 2018 in Chemnitz ist durch schlampige Ermittlungen und eine desinteressierte Justiz gekennzeichnet. Es ist ein fatales Signal an die Betroffenen rechter Gewalt, dass die Vollstrecker rassistischer Vertreibungsfantasien völlig straffrei ausgehen,“ sagt Rechtsanwalt Onur Özata, Nebenklagevertreter im Verfahren.

„Es ist ein Skandal, dass die sächsische Justiz fünfeinhalb Jahre nach den rassistischen und rechten Ausschreitungen und dieser massiven Tat kaum etwas versuchte, um aufzuklären und Gerechtigkeit im Sinne der duzenden Betroffenen wiederherzustellen“, sagt Anna Schramm von der Beratungsstelle SUPPORT des RAA Sachsen e.V., die mehrere Geschädigte seit nunmehr über fünf Jahren unterstützt und begleitet.

 „Im Gegensatz zu einer Vielzahl von Betroffenen, die aus der gesamten Bundesrepublik und sogar aus dem EU-Ausland zu ihren Aussagen anreisen und vor Gericht die bedrohlichen Szenen des 1.September 2018 erneut durchleben und wiedergeben mussten, bleiben die Täter nach ein paar Zeilen und trotz geständiger Einlassung ohne Verurteilung. Dies ist ein Schlag ins Gesicht der Betroffenen“, sagt Anna Schramm.

„Die bisherigen Einstellungen sind ein Freifahrtschein für den rechten Mob, der am 01. September 2018 in Chemnitz Menschen angegriffen hat. Für die Betroffenen ist die Mutlosigkeit der Justiz ein weiterer Schlag ins Gesicht. Erst die jahrelange Verschleppung des Verfahrens, dann keine Strafen für die an der Tat beteiligten Rechten. Das Versprechen eines konsequenten Vorgehens und effektiver Strafverfolgung bei rechten Gewalttaten ist zum wiederholten Mal wieder ins Leere gelaufen.“ betont Rechtsanwältin und Nebenklagevertreterin Kati Lang.

„Die fatale Botschaft dieser verschleppten Strafverfolgung ist leider kein Einzelfall: Der Rechtsstaat lässt Betroffene rechter Gewalt in Sachsen – wieder einmal – im Stich. Hier zeigt sich, dass Menschen, die sich Neonazis und rassistischen Mobilisierungen entgegenstellen, nicht auf eine konsequente Strafverfolgung hoffen können, wenn sie dabei angegriffen werden“, kritisiert der Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG e.V.). „Ein Hoffnungsschimmer ist die Solidarität vieler zivilgesellschaftlichen Spender*innen, die einen erheblichen Teil der Kosten der Nebenklage getragen haben“. Auch die Frage, welche die Planungen und Vernetzungen der militanten Neonazinetzwerke mit den AfD-Funktionären stattfanden, die den Aufmarsch am 1. September 2018 anführten, ist weiterhin offen.

Zum Hintergrund des Verfahrens und dem Desinteresse der sächsischen Justiz: 

Am Rande des Aufmarschs vom 1. September 2018 von über 10.000 Aktivisten und Anhänger*innen der extremen Rechten in Chemnitz – darunter die Führungsriege der rechtsextremen AfD, der Neonazi-Kleinstpartei Freie Sachsen und militante Neonazis aus dem gesamten Bundesgebiet – verübte eine Gruppe von mehr als zwei Dutzend organisierten Neonazis und rechten Kampfsportaktivisten aus dem gesamten Bundesgebiet gezielte Angriffe auf antirassistische Gegendemonstrant*innen. Sie verletzten mehrere Personen. Nach Strafanzeigen einiger Nebenkläger und Verletzter ermittelte die Staatsanwaltschaft zunächst gegen 28 mutmaßlich tatbeteiligte Neonazis aus dem gesamten Bundesgebiet und erhob Anklage wegen Landfriedensbruch in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zum Landgericht Chemnitz. Die Generalstaatsanwaltschaft Dresden hat die Strafverfolgung gegen das Neonazi-Netzwerk in drei verschiedene Verfahren zu je neun Angeschuldigten aufgetrennt. Die Einstellungen gegen Geldauflage nach § 153a StPO erfolgten mit Zustimmung von Staatsanwaltschaft und Gericht, die durch die Zahlung das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung für erledigt ansahen.

Für weitere Informationen und Rückfragen stehen Ihnen die Nebenklagevertreter*innen und Opferberatungsstellen in Sachsen und Hessen gerne zur Verfügung:

Opferberatung SUPPORT

Mail: opferberatung.chemnitz@raa-sachsen.de

Telefonnummer: 0371 4819451/ 0172 9743674

Opferberatung response

Mail: Presse.response@frankfurt-evangelisch.de

Telefonnummer: 01523 7610896

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