Stellungnahme des VBRG e.V.: Opferschutz als staatliche Verpflichtung im Demokratiefördergesetz

23.03.2022

Auf Einladung der für das geplante Demokratiefördergesetz federführenden Ministerinnen Anne Spiegel (BMFSFJ) und Nancy Faeser (BMI) hat der VBRG e.V. als Dachverband der spezialisierten Gewaltopfer-Beratungsstellen eine Stellungnahme mit wichtigen Eckpunkten vorgelegt. Ausgangspunkt für das Demokratiefördergesetz ist ein im Februar 2022 veröffentlichtes erstes Diskussionspapier aus dem Bundesfamilien- und Bundesinnenministerium.

Unsere Stellungnahme im Wortlaut:

Stellungnahme des Verbands der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG e.V.) zum Diskussionsentwurf des BMFSFJ und BMI für ein Demokratiefördergesetz vom 20.3.2022

Unsere Mitgliedsorganisationen in 14 Bundesländern begrüßen die Initiative für ein Demokratiefördergesetz sehr. Die Gewaltopferberatungsstellen unterstützen mit langjähriger Erfahrung und großer Expertise jährlich hunderte Betroffene und Überlebende rechter Gewalttaten und Attentate: kostenlos, vertraulich, vor Ort, parteilich im Sinne der Betroffenen und auf Wunsch auch anonym.

Demokratiefördergesetz als Zeichen staatlicher Solidarität mit den Angegriffenen

Die fachspezifischen unabhängigen Gewaltopferberatungsstellen haben sich seit ihrer Gründung vor zwanzig Jahren für eine langfristige Absicherung zivilgesellschaftlicher Beratungsstrukturen durch eine entsprechende gesetzliche Regelung eingesetzt. Denn sie wissen aus Erfahrung, dass die von ihnen unterstützten direkt und indirekt Betroffenen von Angriffen, Bedrohungen, Brandanschlägen und rechtsterroristischen Attentaten auf langfristige zivilgesellschaftliche Beratungsstrukturen angewiesen sind. Betroffene und die sie unterstützenden Beratungsstellen begreifen ein Demokratiefördergesetz als ein wichtiges Signal staatlicher Solidarität: mit denjenigen, die durch den Tod von Angehörigen, durch teilweise lebenslangen Verletzungsfolgen oder durch den Verlust ihrer wirtschaftlichen Existenz nach rassistisch, antisemitisch oder rechts motivierten Gewalttaten und Attentaten von der flächendeckenden Bedrohung durch Antisemitismus, Rassismus und Rechtsextremismus am stärksten betroffen sind.

Opferberatungsstellen als tragende Säulen

Als die SPD-Grünen geführte Bundesregierung im Jahr 2001 mit dem Förderprogramm CIVITAS einen Paradigmenwechsel in der Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus einleitete, gehörte die Finanzierung zivilgesellschaftlicher Opferberatungsstellen in den fünf neuen Bundesländern und Berlin zu den drei Säulen des damals gerade einmal 5 Millionen Euro umfassenden Förderprogramms. Seitdem haben die Opferberatungsstellen mit großer Professionalität tausende von direkt und indirekt Betroffenen und Hinterbliebene schwerster rechter Gewalttaten bei der Durchsetzung ihrer Rechte als Geschädigte und Hinterbliebene begleitet und mit ihnen Perspektiven nach traumatischen Verlusten und Verletzung entwickelt – zuletzt u.a. nach den rechtsterroristischen Attentaten in Halle (Saale) und Hanau.

Mit Blick auf das vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gemeinsam mit dem Bundesministerium des Inneren vorgelegten Diskussionspapier vom 21. Februar 2022 nehmen wir daher wie folgt Stellung:

1) Aus der Verpflichtung zum Opferschutz ergibt sich die Notwendigkeit eines Demokratiefördergesetzes.

Rechts, rassistisch und antisemitisch motivierte Gewalttaten stellen eine dauerhafte Bedrohung dar – insbesondere für alle Menschen, denen in der Ideologie der Täter*innen die Zugehörigkeit und das Existenzrecht abgesprochen werden sowie für den demokratischen Rechtsstaat, den die Täter*innen ablehnen und bekämpfen. Täglich werden mindestens 2- 3 Menschen aus rechten, rassistischen oder antisemitischen Motiven angegriffen und Opfer einer politisch rechts motivierten Gewalttat im Sinne der PMK. 12 Menschen starben alleine seit 2019 bei rechtsterroristisch, rassistisch und antisemitisch motivierten Attentaten in Istha bei Kassel, Halle (Saale) und Hanau. Am 18.9.2021 tötete ein Anhänger der Coronaleugnerbewegung aus rechten Motiven einen Tankstellenmitarbeiter in Idar -Oberstein aus Protest gegen staatliche Pandemieschutzmaßnahmen und nur wenige Monate später tötete am 4. Dezember 2021 aus antisemitischen Verschwörungsnarrativen heraus ein Anhänger der Coronaleugner-Bewegung vier seiner Familienmitglieder im brandenburgischem Königs Wusterhausen. Die Zahl der von rechten, rassistisch und antisemitischen motivierten Gewalttaten direkt und indirekt Betroffenen seit der Wiedervereinigung beläuft sich – selbst wenn ausschließlich die PMK-Rechts Zahlen des Bundeskriminalamtes zugrunde gelegt werden – auf mehrere 10.000 Menschen.

Verpflichtungen durch EU-Opferschutzrichtlinie

Die EU – Opferschutzrichtlinie – Richtlinie 2012/29/EU -, die 2012 durch das EU-Parlament angenommen und 2015 in allen Mitgliedstaaten in Kraft getreten ist, verpflichtet die Bundesregierung dazu, die Rechte von Opfern von Straftaten erheblich zu stärken. Dazu gehört auch die Verpflichtung der Bundesregierung, den Zugang zu unabhängigen professionellen und fachspezifischen Beratungsstellen zu erleichtern und auszubauen. Aus der EU Opferschutzrichtlinie ergibt sich auch die Notwendigkeit, den Opferschutz und die Finanzierung der spezialisierten Opferberatungsstellen für Betroffene von rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt, deren Wirksamkeit zuletzt 2021 in einer umfassenden wissenschaftlichen Evaluation durch das Deutsche Jugendinstitut (DJI) nachgewiesen wurde, in einem zukünftigen Demokratiefördergesetz zu verankern. Das DJI hatte darin auch den Gesetzgeber auf die noch immer unzureichende Absicherung und Ausstattung der spezialisierten Opferberatungsstellen hingewiesen: „Es zeigt sich nach wie vor ein Missverhältnis zwischen der gesamtgesellschaftlichen Problemlage des Rechtsextremismus, Antisemitismus und Rassismus, den daraus resultierenden Unterstützungsbedarfen von Betroffenen( -gruppen) und der Ausstattung der Opferberatungsstellen.“ (vgl. DJI 2021, „Entwicklungen und Herausforderungen im Feld der Beratung von Betroffenen von rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt“).

2) Dauerhafte Demokratieförderung und Förderung der Opferberatungsstellen ist Aufgabe des Bundes und grundgesetzkonform.

Erstmals wurde die Frage, ob eine Demokratiefördergesetz grundge setzkonform ist, in 2013 durch die Rechtsgutachten von Prof. Battis u.a. im Auftrag der Opferberatungsstellen ezra (Thüringen) und RAA Sachsen e.V. bejaht. In dem Gutachten „Rechtliche Möglichkeiten zur Verstetigung der finanziellen Mittel zur Demokratieförderung und Bekämpfung des Neonazismus“[1] sieht der Verfassungsrechtsexperte Prof. Battis die Kompetenz des Bundes darin begründet, dass es sich bei den Herausforderungen im Themenfeld Rechtsextremismus um eine Angelegenheit von länderübergreifender Bedeutung und damit bundesweiten Charakters handelt. Aufgrund der „Natur der Sache“ liefen länderspezifische Lösungen Gefahr, dass Betroffenen von rechter, rassistischer sowie antisemitischer Gewalt keinen flächendeckenden sowie qualitativ einheitlichen Zugang zu Beratung und Unterstützung bekämen.

3) Durch ein Demokratiegesetz kommt der Staat seiner Pflicht zur Fürsorge für die Betroffenen rechter Gewalt nach, professionelle spezialisierte Beratung und Unterstützung flächendeckend zu gewährleisten.

Auch die Argumentation von Prof. Möllers[2] , dass sich die Kompetenz des Bundes aus der Notwendigkeit der „öffentlichen Fürsorge“ nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG ergibt, kann der VBRG e.V. aus der Praxis der spezialisierten Opferberatungsstellen bestätigen. Der Staat muss auf die lebensgefährliche Bedrohung durch gewaltförmigen Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus reagieren, indem er diese verhindert (Prävention) oder Nachsorge in Form von professioneller und unabhängiger Beratung vorsieht. Dabei müssen sowohl die Prävention als auch die Beratung und Nachsorge als Zusammenspiel von öffentlichen sowie zivilgesellschaftlichen Trägern gedacht und umgesetzt werden. Ein derartiges Zusammenspiel findet längst selbstverständlich seinen Ausdruck in der staatlichen Fürsorge bei der Prävention und Beratung im Kontext von HIV/AIDS oder Drogenkonsum durch entsprechende gesetzliche Regelungen u.a. zur Finanzierung von Beratungsstrukturen in Trägerschaft zivilgesellschaftlicher Vereine und Wohlfahrtsverbände.

Staatliche Fürsorgepflicht für Gewaltopfer im Demokratiefördergesetz verankern

Angesichts der unstrittig ebenfalls flächendeckenden Bedrohung durch gewaltförmigen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus muss das Ziel eines Demokratiefördergesetz aus Sicht des VBRG die Wahrnehmung der staatlichen Fürsorge für die Betroffenen durch eine dauerhafte und bedarfsorientierte Absicherung zivilgesellschaftlicher professioneller spezialisierter Beratungsstrukturen für direkt und indirekt Betroffene und Hinterbliebene darstellen. Darüber hinaus muss der VBRG e.V. als Dachverband der Opferberatungsstellen und bundesweite Struktur dauerhaft unterstützt werden. Dessen Aufgabe, die Qualität der Beratungsarbeit sicherzustellen, weiterzuentwickeln und öffentlich zu vermitteln, ist u.a. nach Ansicht des DJI (DJI 2021) integraler Bestandteil eines flächendeckend notwendigen Beratungsstruktur für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt.

Ein zukünftiges Demokratiefördergesetz muss daher die Opferberatungsstellen als eine der 3 Säulen von notwendigen zentralen Beratungsstrukturen (Opferberatung, Mobile Beratung, Ausstiegsberatung) benennen und sicherstellen, dass diese durch eigene Richtlinien dauerhaft und langfristig gefördert werden, um professionelle, spezialisierte Beratungsleistungen ausführen zu können. Dies beinhaltet einen bedarfsgerechten Sockelbetrag für die Bundesländer sowie eine Förderung für die jeweiligen Dachverbände.

4) Dauerhafte Beteiligung der Zivilgesellschaft sowie der Betroffenen.

An der mörderischen Gewaltförmigkeit von Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus hat sich mitsamt diversifizierter Täter-Biografien seit der Wiedervereinigung nichts verändert: Umso wichtiger ist es, dass die Perspektive der Angegriffenen zum Ausgangspunkt jeglicher staatlichen Maßnahmen und Gesetzgebungen zur Bekämpfung von Rechtsextremismus als größter Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und den demokratischen Rechtsstaat genommen wird. Dementsprechend sollte im Demokratiefördergesetz auch eine Beteiligung der zivilgesellschaftlichen Beratungsstrukturen bei der Ausgestaltung der Förderrichtlinien, bei der wissenschaftlichen Evaluation sowie durch die Einrichtung eines unabhängigen Beirats unter Beteiligung von Betroffenen sichergestellt werden, damit auf die Veränderungen von Bedarfs-und Bedrohungslagen adäquat reagiert werden kann.

Bislang haben die Bundesregierungen auf die dauerhafte und flächendeckende Notwendigkeit, Betroffenen rechter Gewalt adäquate und langfristige Beratungsstrukturen zur Unterstützung und Begleitung bei der Bewältigung der gravierenden Angriffsfolgen anzubieten, lediglich mit befristeten Bundesprogrammen reagiert.

Parteiübergreifend hatten u.a. die Obleute von SPD, CDU/CSU, Grünen, FDP und Linke in den Abschlussberichten der NSU-Untersuchungsausschüsse die dauerhafte und adäquate Finanzierung von spezialisierten Opferberatungsstellen empfohlen und angemahnt. Wir freuen uns, dass die jetzige Bundesregierung diese Empfehlung nunmehr durch das geplante Demokratiefördergesetz umsetzt, und beteiligen uns gerne an dem weiteren Ausgestaltungsprozess.

VBRG-Stellungnahme zum Download: Opferschutz als staatliche Verpflichtung im Demokratiefördergesetz März 2022

Gemeinsame Stellungnahme zivilgesellschaftlicher Träger in der Bundesarbeitsgemeinschaft Demokratieförderung (BADG) zum Demokratiefördergesetz im März 2022 zum Download: BAGD Stellungnahme DemokratieförderG

[1] vgl. Battis/Grigoleit/Drohsel: „Rechtliche Möglichkeiten zur Verstetigung der finanziellen Mittel zur Demokratieförderung und Bekämpfung des Neonazismus“, 2013, (Download)

[2] Prof. Dr. Christoph Möllers: „Demokratie dauerhaft fördern, Kompetenzrechtliche Vorgaben für ein
Demokratiefördergesetz des Bundes“, 2020, (Download)