Antisemitismus und Rechtsterrorismus
Nach dem antisemitisch, rassistisch und rechtsterroristisch motivierten Attentat von Halle/S. an Yom Kippur im Oktober 2019 ist eine Auseinandersetzung mit Antisemitismus und Rechtsterrorismus notwendiger denn je. Die Lyrikerin und Autorin Esther Dischereit, der Rechtsterrorismus-Experte Gideon Botsch, Leiter der Emil Gumbel Forschungsstelle am Moses Mendelssohn Zentrum in Potsdam und Heike Kleffner analysieren Kontinuitäten, Normalisierungen und die Straflosigkeit nach antisemitischen Gewalttaten.
Tödlicher Antisemitismus: Das Sprechen über die Opfer von Halle
Ein Gastbeitrag von Esther Dischereit
„Mit großer Überzeugung und aus vollem Herzen (… ) Ja. Wir wollen die jüdische Gemeinschaft in unserem Land“, hatte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am Tag nach dem Anschlag, am 10. Oktober 2019 auf einer Veranstaltung des jüdischen Studienwerks ELES zu dessen zehnjährigem Bestehen ausgerufen. Weiter sagte Steinmeier: „Wir verurteilen Angriffe auf jüdische Bürger. Und wir begreifen den Antisemitismus als Angriff auf uns alle, auf unsere liberale Ordnung, auf unser Zusammenleben in einer Gesellschaft, die stolz ist auf ihre Vielfalt, die sich bewusst entschieden hat, nicht im Gleichschritt zu marschieren.“ Ich muss zugeben, dass ich nicht undankbar darüber bin, dass hier nicht mehr von jüdischen „Mit“-Bürgern die Rede ist und über die Bestimmtheit, mit der ein antisemitischer Mordversuch als antisemitisch bezeichnet wird.
Es bleibt eine Tatsache, dass die Bedrohung durch extrem rechte und antisemitische Gewalt weder erst jetzt offenbar geworden ist noch, dass sie andere Bürger*innen leider nicht auch beträfe. Sinti und Roma sind einer Kontinuität von Bedrohung ausgesetzt, die es auch für diese Minderheit nötig macht, eine besondere Schutzmauer zum Eingang ihres Zentrums in Baden-Württemberg zu errichten. Vier Tage nach dem Attentat von Halle erhielt der Vorsitzende des Verbands, Daniel Strauß, eine Anschlagsdrohung auf seinem privaten Handy. „Nach Halle ist jetzt euer Kulturhaus dran. Bis bald.“ Auch diese Minderheit ist in Deutschland, Österreich und Osteuropa zu Hunderttausenden dem Rassenwahn der Nationalsozialisten zum Opfer gefallen.
Antisemitischer Terror als Alltagserfahrung
Es bleibt auch eine Tatsache, dass weitere Ermittlungen im Zusammenhang mit der knapp 10.000 Adressen umfassenden Feindes- und Anschlagszielliste des NSU-Netzwerks, die auf einem der Computer in der Wohnung des NSU-Kerntrios in Zwickau aufgefunden worden war, nicht erfolgt sind. Darin sind 233 Ziele mit Bezug zu jüdischem Leben verzeichnet und eine weit darüber hinausgehende Anzahl von Zielen mit Bezug zu Einwanderer-Communities und Adressen von Politiker*innen und Parteien.
Antisemitisch motivierte rechtsterroristische Taten im Nachkriegsdeutschland gehörten spätestens seit 1980 mit der Ermordung des Rabbiners und Verlegers Shlomo Lewin in Erlangen und seiner Lebensgefährtin Frida Poeschke zu einer gewalttätigen Alltagserfahrung: ebenso wie Brandanschläge, etwa auf die Erfurter Synagoge am 20. April 2000, das Attentat mit zehn Verletzten im Juli 2000 in Düsseldorf-Wehrhahn und Angriffe an anderen Orten. Fast gebetsmühlenartig wird nach jeder rechtsterroristischen Gewalttat wiederholt, es handele sich um Einzeltäter. Erst nach und nach wird wahrgenommen, dass es sich um eine Gefährdung durch gewaltbereite neonazistische Netzwerke handelt. Noch im August 2019 zählte das Bundeskriminalamt lediglich 41 Gefährder, obwohl die Behörde die Zahl gewaltbereiter Rechtsextremisten mit über 12.000 angegeben hat. Mindestens neun Anklagen gegen NSU-Unterstützer*innen stehen noch aus. Etwa 500 Haftbefehle gegen Rechtsextreme sind ebenfalls nicht vollzogen.
Erst der noch kein halbes Jahr zurückliegende neonazistische Mord an dem christdemokratischen Regierungspräsidenten von Kassel, Walter Lübcke, hatte – mit Verzögerung – einen Aufschrei im politischen Establishment zur Folge. Walter Lübcke war der Verpflichtung nachgekommen, sich um Schutz suchende Menschen zu kümmern, die vor Diktatur und Bürgerkrieg geflohen sind. Er hatte offenbar die Gefühle der Rechtsextremen verletzt, als er davon sprach, wer mit solchen Wertevorstellungen nicht übereinstimme, dem sei es unbenommen, Deutschland zu verlassen.
Eine öffentliche Verurteilung des Terrorakts von Halle – auch andere Politiker*innen schlossen sich Frank-Walter Steinmeier an – ist wichtig und hat in dieser Symbolträchtigkeit einen spezifischen historischen Bezug. Sie stellt eine fortdauernde Demonstration dar, dass wir uns nicht in nationalsozialistischer Kontinuität bewegen, sondern in der Demokratie, die mörderischen Antisemitismus ächten will.
Die konsequente Unterschätzung extrem rechter Gewaltbereitschaft konterkariert solche Symboliken jedoch und lässt sie wie bloße Lippenbekenntnisse erscheinen. Überdies entwickelte sich medial und politisch spätestens ab der Zuwanderung von geflüchteten Menschen ein vorherrschendes Bedürfnis, den Antisemitismus jenen „Fremden“ zuzuordnen und ihn damit aus dem mehrheitsdeutschen Gesellschaftsgefüge quasi zu exkorporieren. Dafür gab und gibt es wissenschaftlich keine Belege.
Unverzichtbar: Die Gesellschaft der Vielen
Ich komme zurück zu jenem Satz des Bundespräsidenten: „Ja. Wir wollen die jüdische Gemeinschaft in unserem Land.“ Die islamische Community in Deutschland hat eine solche Wertschätzung ihrer Existenz in gleicher Weise bis heute nicht erfahren. Eine Aufmerksamkeit für angezündete Moscheen oder bespuckte Kopftuch-Träger*innen lässt auf der politischen Bühne auf sich warten – mit Ausnahme sehr weniger Politiker*innen.
Der Geschäftsführer des vor fünf Jahren gegründeten islamischen Studienwerks Avicenna, Hakan Tosuner sagte auf der gleichen Veranstaltung, auf der sich auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier befand: „Gerade in Anbetracht des tragischen Ereignisses von gestern ist der jüdisch-muslimische Schulterschluss bedeutender denn je. Egal ob Synagogen oder Moscheen angegriffen werden; egal ob Personen mit Kippa oder Kopftuch physisch oder verbal attackiert werden, wir müssen uns miteinander solidarisieren.“
Ich vereinfache den fraglichen Satz des Bundespräsidenten: „Ich bin froh, dass es Sie gibt, dass es Sie hier unter uns gibt.“ Ich stelle mir vor, wie er vor der Community der Sinti und Roma sprechen würde oder zu einer islamischen Gemeinschaft. Ich habe ihn nicht gehört. Er stimmt nicht, klingt unaufrichtig. Eben deswegen, weil offenbar ist, dass ein solcher Satz gegenüber anderen Communities oder Glaubensgemeinschaften nicht in gleicher Weise zu hören ist.
Es ist zutreffend, dass sich im ideologischen modernen NS-Repertoire sowohl antisemitische als auch antimuslimische, rassistische und auch anti-queere und weitere Versatzstücke vom “unwerten” Leben – insbesondere auch des politischen Gegners – finden. Das Anhalten und Morden am “Kiez-Döner” in Halle war deutlich mit diesem Label durch den Täter versehen.
Wenn ich den Satz “Ich bin froh… “ auf die türkisch oder muslimisch stämmigen Menschen oder die Community der Sinti und Roma anwenden wollte, sehen wir, dass er als Universalbehauptung gegenüber allen Bürger*innen nicht stimmt. Und ich muss zugeben, dass ich persönlich auch nicht nach solch einem Satz verlange. Es muss überhaupt niemand froh oder nicht froh darüber sein, dass es mich gibt. Ich bin da. Gleichgültig, ob jemand darüber froh ist oder nicht. Steht es staatlichen Repräsentanten zu, mich wie ein Mündel willkommen zu heißen? Legitimiert sich diese Haltung qua Zugehörigkeit zu einer Mehrheit? Also auf diesen Satz kann ich verzichten. Nicht verzichten kann ich dagegen auf das Aufgehoben-Sein als jüdischer Mensch in der Gemeinschaft derer, die sich als Protagonist*innen der Vielen, einer Gesellschaft der Vielen, Unteilbaren oder ähnlichen Initiativen sehen.
Wider die Unsichtbarkeit
Bei der Einweihung des Baum-Denkmals für die Ermordeten des NSU (Nationalsozialistischer Untergrund) in Zwickau am 3. November 2019 fanden neben der Oberbürgermeisterin Pia Findeiß (SPD) auch die weiteren Redner*innen kein Wort zum Anschlag und den Morden in dem zwei Stunden entfernten Halle. Jetzt könnte ich in Anlehnung an die Debatte um das Verhalten staatlicher Behörden im Zusammenhang der unterbliebenen Ermittlungen gegen den NSU den Vorgang als ein Versehen bezeichnen. Ist es ein Versehen, dass die Bedrohung der jüdischen Menschen und damit sozusagen der jüdische Mensch “invisible”, also unsichtbar, wurde? Oder ist es eben jene Form von Antisemitismus, die uns in vielen anderen Zusammenhängen ebenfalls begegnet. Nicht willentlich, nein, natürlich nicht.
Die Nebenklagevertreterin für den ermordeten Enver Şimşek, Seda Başay-Yıldız, wurde unter der Signierung “NSU.2” mit Todesdrohungen überzogen. Im Chat von Polizeibeamten in Frankfurt am Main, die unter Verdacht stehen, ihre Adresse an den “NSU2.0” weitergegeben zu haben, fanden sich Verherrlichungen Adolf Hitlers. Damit beziehen sich die Akteure nicht nur auf rassistische und eliminatorische Versatzstücke der NS-Ideologie, sondern per se auch auf eine antisemitisch konnotierte Todesdrohung. Dem Bezug auf Adolf Hitler wohnt immer schon der Auslöschungsgedanke gegen jüdische Menschen inne, der Millionen Opfer der Shoa. Ein Pegida-Anhänger drückte diesen Zusammenhang einmal so aus, als er davon sprach, 6 Millionen Muslime seien doch wirklich zuviel. Eine Zahl, mit der die Ermordung der Juden in Europa in der Shoa bezeichnet wird.
Wohin? Wie weiter?
Wenn ich die Liste der Opfer rechter Gewalt in Sachsen-Anhalt ansehe, finden sich viele Menschen darunter, die wahrscheinlich keine Bindestrich-Herkünfte haben, sondern deutsch-deutscher Herkunft sind. Opfer einer Willkür, Opfer als Pauperisierte, Opfer als solche, die Nazis widersprachen. Sie alle gehören aufgehoben in der Solidarität derer, die sich für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt einsetzen. Es wäre gut, diese Arbeit nicht nur als fortdauernde Bewegung der Abwehr oder Betreuung anzusehen sondern als Teil einer Bürgerrechtsbewegung. Wohin wollen die Akteure, die Betroffenen und jene, die sich an ihre Seite stellen oder stellen wollen. Die Diskurse um Identität, die Selbst-Organisationen von People of Color, Schwarzer Deutscher, der Sinti und Roma, mit der sicherlich längsten Geschichte einer Bürgerrechtsbewegung der jüngeren Geschichte nach 1945, dies alles sind notwendige Prozesse.
Der rechten und rechtsterroristischen Sammlungsbewegung, die sich parlamentarisch und außerparlamentarisch platziert, kann jedoch nicht mit einer Fortsetzung oder Ausweitung der Debatten um Identitäten begegnet werden. Eine Bürgerrechtsbewegung, die das Recht aller z u s e i n einforderte, kann sich Ideologismen nicht leisten. Sie kann auch auf Akteure unterschiedlicher politischer Orientierung nicht verzichten. Bei Akzeptanz aller Unterschiedlichkeit käme es eben jetzt darauf an, die Gemeinschaft – der Vielen – zu stärken.
Sie kann sich möglicherweise nur in einer gewollten und bewußten Zusammenführung gegenüber einer weißen gesellschaftlichen Dominanz Gehör verschaffen und Positionen der Teilhabe gewinnen. Nichts deutet darauf hin, dass die Bewegung rasche Erfolge haben kann. Nur: Verzichten kann man auf diesem Weg auf niemanden. Black Lives Matter, Turkish Lives Matter, Jewish Lives Matter, Romni Lives Matter …
Im Grunde geht es doch darum, dass der Bürgersteig allen gehört. Allen, die auf ihm gehen wollen und keine Gruppe kann beschließen, ob jemand da geht oder nicht. Das ist voraussetzungslos und nicht verhandelbar.
Esther Dischereit ist Lyrikerin, Essayistin sowie Theater- und Rundfunkautorin. Sie ist eine der wichtigsten literarischen Stimmen der zweiten deutschsprachigen Generation nach der Shoa. Demnächst: Essays Mama darf ich das Deutschlandlied singen, 2020.
„Die Juden in Deutschland sind eine in hohem Maße schutzbedürftige Gruppe“
Dr. Gideon Botsch leitet die Emil Julius Gumbel Forschungsstelle Antisemitismus und Rechtsextremismus des Moses Mendelssohn Zentrums in Potsdam und lehrt Politikwissenschaften. Im Interview mit der Mobilen Opferberatung spricht der Rechtsterrorismus-Experte über die Bedeutung des Anschlags vom 9. Oktober 2019.
Welche Auswirkungen hat das Attentat auf die Synagoge in Halle auf Jüdinnen und Juden in Deutschland?
Die Bilder von Beterinnen und Betern, die minutenlang schutzlos in einer Synagoge eingeschlossen sind, während ein Mörder eindringen will, wecken furchtbare Erinnerungen. Es bleibt erneut das Gefühl, allein gelassen und auf sich selbst gestellt zu sein. Die Tat hat sehr deutlich gemacht, dass der mörderische rechtsextreme Antisemitismus, der Vernichtungsantisemitismus in der Tradition des Nationalsozialismus in Deutschland weiter existiert. Andere Bedrohungen wie israelbezogene Ausschreitungen oder Übergriffe durch muslimisch geprägte junge Männer kommen dazu.
Welche Bedeutung hat es für Jüdinnen und Juden, dass das Attentat an Yom Kippur verübt wurde?
Es gibt eine lange Tradition, antijüdische Anschläge und Übergriffe an hohen jüdischen Feiertagen auszuüben. 1941 verkündete die Gestapo den Beginn der Deportationen in die Ghettos und Vernichtungslager bewusst zu den Hohen Feiertagen. Auch das Datum für den Angriff arabischer Staaten auf Israel zu Yom Kippur im Jahr 1973 wurde sicher nicht nur aus taktischen Erwägungen gewählt. Ich habe mich noch am Tag vor dem Attentat gefragt, wo in der Welt Judenfeinde diesmal zuschlagen werden. Dass es nur eine Autostunde von Potsdam entfernt sein würde, war ein ziemlicher Schock.
Offenbar wird der Generalbundesanwalt das Attentat auf die Beterinnen und Beter in der Synagoge als versuchten Mord werten. Welche Bedeutung hat diese Entscheidung?
Die Mordabsicht ist in meinen Augen evident, sie ergibt sich aus der schriftlich publizierten Absichtserklärung ebenso wie aus den konkreten Handlungen an der Synagoge. Es wäre ein Skandal gewesen, wenn dies unter den Tisch gefallen wäre. Die antisemitische Komponente der Tat ist, ebenso wie die rechtsextreme, ja insbesondere aus den einschlägigen Kreisen der extremen Rechten heraus bestritten worden, nicht zuletzt aus den Reihen der AfD. Es ist dringend nötig, dass die Tatmotive in der Hauptverhandlung erörtert und die Ergebnisse auch im Urteil dokumentiert werden. Die Öffentlichkeit muss begreifen, welche mörderische Energie dieser Vernichtungsantisemitismus entfaltet.
Welche politische Botschaft ist darin zu sehen, dass der Attentäter auch den jüdischen Friedhof neben der Synagoge angegriffen hat?
In den Angriffen auf Friedhöfe kommt der Vernichtungswille besonders deutlich zum Ausdruck. Da lebende Juden nicht so leicht greifbar sind, vergreift man sich an den Toten und macht zudem deutlich, dass man auch noch die Erinnerung an sie auslöschen will. Das ist nicht einfach Sachbeschädigung. Zumal Friedhöfe im Judentum Orte von besonderer Bedeutung sind und das Andenken an die Toten einen hohen Stellenwert hat.
In vielen öffentlichen und politischen Reaktionen wurde das Attentat als neue Qualität von Rechtsterrorismus bezeichnet. Ist das zutreffend?
Der Anschlag steht einerseits in einer Kontinuität antisemitischen Terrors. Hier zeigen sich aber auch neue Elemente. Unmittelbar einen solchen Massenmord an Jüdinnen und Juden zu planen und nur durch glückliche Fügung/Umstände nicht zur Ausführung zu bringen, ist in Nachkriegsdeutschland durchaus neu. Wir wissen noch nicht, ob der Attentäter komplett eigenständig geplant und gehandelt hat. Wenn dies der Fall sein sollte, ist der Modus der Tatausübung durch einen Einzelnen bei gleichzeitiger internationaler Bezugnahme auf Vorgängertaten und dem Aufruf zur Nachahmung, – das alles in Echtzeit, in Englisch und über das Internet übertragen – neu.
Sehen Sie Zusammenhänge zwischen dem offenen Antisemitismus im Alltag und der extrem rechten Mobilisierung seit 2015?
Nicht erst seit 2015, sondern seit mehr als zehn Jahren gibt es eine Flut von Publikationen, die nicht offen neonazistisch sind, bei denen aber internationale Flucht- und Migrationsprozesse, vermeintliche kulturelle Verfallserscheinungen, Feminismus, „Genderideologie“ und Anderes zu einer Melange verknüpft werden, die ihre antisemitische Konnotation nicht verbergen kann: Denn die „Schuld“ an diesen Prozessen wird „Globalisten“ und „Kulturmarxisten“ unterstellt, die mit einer Kette antisemitisch geprägter Attribute ausgestattet werden. Besonders deutlich wird dies bei neurechten Unternehmen wie dem Antaios Verlag und dem Institut für Staatspolitik aus Schnellroda. Die Täter der jüngeren Großanschläge bedienten sich in der Regel exakt der Terminologie, die in Deutschland durch Antaios und andere verbreitet wurde: Breivik durch Begriffe wie „Globalisten“ und seine „Kreuzzugs“-und „Reconquista“-Rhetorik, Tarrant in Neuseeland durch die Bezugnahme auf die „Identitären“ und den Begriff „Großer Austausch“. Der Täter von Halle teilt einige dieser Schlagworte und bekennt sich darüber hinaus zu einem neuen „Barbarianism“, eine antifeministische Position, die in Deutschland vor allem von Schnellroda aus beworben worden ist. Sicherlich lehnt man in Schnellroda individuelle Terrorakte mindestens aus strategischen Gründen ab. Aber es ist auffällig, dass die Terroristen sich seit Jahren vor allem auf die Stichworte dieser „Neuen Rechten“ beziehen.
Denken Sie dabei auch an die AfD?
Die AfD weist den Zusammenhang empört von sich, hat aber den Antisemitismus durch die Übernahme dieser Propaganda-Motive in die eigene Rhetorik mit bestärkt. Ihre unsägliche Hetze gegen den Zentralrat der Juden macht die jüdische Gemeinschaft zusätzlich schutzlos. Der größere Teil der bayerischen AfD-Landtagsfraktion hat der Schoa-Überlebenden Charlotte Knobloch anlässlich ihrer Rede zum Holocaust-Gedenktag 2019 den Respekt verweigert und tumultartig den Plenarsaal verlassen. Dafür gibt es in der jüngsten deutschen Geschichte nur einen Vorläufer: die Störung des Schoa-Gedenkens durch die NPD-Fraktion im sächsischen Landtag in 2005. Damals war es ein Skandal, in diesem Jahr hat sich kaum noch jemand aufgeregt. Viele Jüdinnen und Juden in Deutschland sind außerordentlich beunruhigt über die AfD und über den Mangel an Abgrenzung ihr gegenüber.
Vor 1933 hatte die Jüdische Gemeinde in Magdeburg rund 2.300, die Gemeinde in Halle rund 1.300 Mitglieder, Halberstadt galt als eines der wichtigsten Zentren der jüdischen Orthodoxie. Die Schoa überlebten nur sehr wenige Juden und Jüdinnen in Sachsen-Anhalt. Die Gemeinde in Halle musste indes Sicherheitsmaßnahmen für die Synagoge – insbesondere für Kauf und Installation von Kameras und entsprechenden Computern – durch Spenden aus den USA finanzieren. Welche politischen Reaktionen wären jetzt Ihrer Ansicht nach notwendig?
Dass heute noch größere jüdische Gottesdienste ohne geeignete Sicherheitskonzepte und polizeilichen Schutz stattfinden, hat mich wirklich überrascht. Der Bund und alle Bundesländer sollten dringend beginnen, die Bedarfe der jüdischen Gemeinden und anderer Einrichtungen abzufragen – gemeinsam mit RIAS Berlin haben wir das für Brandenburg gerade durchgeführt. Anschließend sollten in enger Abstimmung mit den Betroffenen auch die Schutzmaßnahmen durchgesprochen und die Gemeinden gegebenenfalls – auch finanziell – dazu ertüchtig werden, Denn es handelt sich ja nicht um privaten Einbruchsschutz, sondern um eine öffentliche Angelegenheit. Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland wird von vielen Menschen als reich, mächtig und einflussreich wahrgenommen. Das ist nicht richtig: sie hat sich von den Verheerungen des 20. Jahrhunderts nie erholen können. Die Mittel der meisten Gemeinden und vieler ihrer Mitglieder sind knapp. Das gilt zumal für die ostdeutschen Bundesländer, wo jüdisches Leben erst langsam wieder entsteht. Halle sollte deutlich gemacht haben: Die Juden in Deutschland sind eine angegriffene, schwache und in hohem Maße schutzbedürftige Gruppe.
Kontinuitäten: Antisemitismus und Rechtsterrorismus
Gastbeitrag von Heike Kleffner
Die Auseinandersetzung mit Antisemitismus als einem zentralen Leitmotiv neonazistischer Ideologie und daraus folgenden Anschlägen und Gewalttaten gegen jüdisches Leben nimmt viel zu wenig Raum ein: bei Strafverfolgungsbehörden ebenso wie in den Medien und in einer breiteren Öffentlichkeit. Dabei sind mörderische Attentate auf Jüdinnen und Juden, Friedhofsschändungen und Brandanschläge auf Synagogen in West- und Ostdeutschland eine bittere Realität – und keineswegs Einzelfälle. Erst im Mai 2019 hatten bis heute unbekannte Täter einen Brandanschlag auf das Zuhause eines jüdischen Ehepaars in Hemmingen (Niedersachsen) verübt. Auf die Haustür und den Holzzaun des nahegelegenen Schrebergartens der Familie sprühten die Täter in Großbuchstaben das Wort »Jude«.[1]
Zuvor hatte der jüngste Angriff auf das jüdische Restaurant „Schalom“ in Chemnitz (Sachsen) für Schlagzeilen gesorgt: Am Rande der rassistischen Hetzjagden nach der Tötung des deutsch-kubanischen Tischlers Daniel H. Ende August 2018 überfielen etwa ein Dutzend Neonazis am Abend des 27. August 2018 auch das koschere Restaurant. Die vermummten, in schwarz gekleideten Täter riefen „Hau ab aus Deutschland, du Judensau“, bewarfen das Lokal mit Steinen, Flaschen und einem abgesägten Stahlrohr, zerstörten die Inneneinrichtung sowie Fensterscheiben und verletzten dessen Besitzer durch einen Steinwurf. Bis heute sind die Täter nicht zur Verantwortung gezogen worden. Die Staatsanwaltschaft Chemnitz hat die Ermittlungen inzwischen eingestellt – wie auch zu den vier Brandanschlägen auf migrantische Restaurants in Chemnitz, die in den Wochen nach dem Angriff auf das „Schalom“ folgten.
Fließende Grenzen zwischen Alltagsgewalt und Terror
Auch die Mobile Opferberatung in Sachsen-Anhalt registrierte in den letzten Jahren immer wieder antisemitisch motivierte Gewalttaten: Beispielsweise in den Abendstunden des 14. August 2018, als ein augenscheinlich alkoholisierter Mann vor einem Imbiss am Reileck in Halle (Saale) Parolen wie “Sieg Heil!”, und “Ihr seid Juden!” rief und dann einen 29-jährigen Israeli verletzte. Oder am 30. Oktober 2017 in Zeitz, wo ein aufgrund seiner Kippa als Jude erkennbarer 58-Jähriger Mann in der Innenstadt völlig unvermittelt antisemitisch beleidigt und so mit einer Bierflasche auf den Kopf geschlagen wurde, dass er kurzzeitig das Bewusstsein verlor. Für überregionale Aufmerksamkeit sorgte der Angriff auf einen 17-jährigen Israeli im April 2010 in Laucha. Der 20-jährige Rechte hatte den Schüler geschlagen, als „Judenschwein“ beschimpft und dann auf Kopf und Körper des am Boden Liegenden eingetreten.[2]
Dabei ist zu befürchten, dass die Anzahl nicht bekannt gewordener antisemitischer Angriffe deutlich höher liegen dürfte. Über die genaue Anzahl antisemitisch motivierter Friedhofsschändungen und Anschläge auf Synagogen in Sachsen-Anhalt sowie auf KZ-Gedenkstätten und sichtbare Mahnmale an die Schoa – etwa in Dessau-Rosslau, Halle, Magdeburg, Weißenfels, Gröbzig und Langenstein-Zwieberge – wäre ein genauer Überblick längst überfällig. Denn bereits einige Chroniken aus der DDR-Zeit und Antworten auf parlamentarische Anfragen aus den letzten Jahren machen überdeutlich: Die wenigen Dutzend Juden und Jüdinnen der einstmals mehrere tausend Menschen umfassenden jüdischen Gemeinden, die die Schoa überlebten und nach 1945 entweder nach Sachsen-Anhalt zurückkehrten oder sich dort niederließen waren ebenso wie das Andenken an die Toten, die Friedhöfe und Gebäude der jüdischen Gemeinden, kontinuierlichen Angriffen ausgesetzt.
Kontinuität antisemitischer Gewalt
Antisemitismus ist ein zentrales Element der wiederkehrenden extrem rechten Mobilisierungen seit 1990 und war auch in der DDR präsent. Beispielsweise in den antisemitisch motivierten Säuberungswellen in der SED, die u.a. die Schriftstellerin Irina Liebmann in der Biografie „Wäre es schön – Es wäre schön“ (Berlin 2008) ihres zur Archivarbeit nach Merseburg verbannten Vaters Rudolf Herrnstadt präzise schildert, einem bekannten jüdischen Antifaschisten, Kommunisten und ehemaligen Chefredakteur des „Neuen Deutschland“.
Dazu gehörten auch gezielte Operationen des MfS gegen die winzigen jüdischen Gemeinden, wie etwa in Halle, wo die Archivarin Gudrun Goeseke das Archiv der Jüdischen Gemeinde nur knapp vor dem Zugriff des MfS retten konnte.[3] Friedhofsschändungen wiederholten sich ebenfalls: So wurden im Januar 1966 und 1969 auf den jüdischen Friedhöfen in Halle und Stendal jeweils mehr als ein Dutzend Grabsteine zerstört. In Bernburg wurden Anfang 1971 erst mehrere Grabsteine und im April 1971 dann alle Fenster der Leichenhalle des jüdischen Friedhofes zerschlagen, die Tür aufgebrochen und demoliert, die Mauer beschädigt und acht Grabsteine umgestoßen.
Die Kontinuität, mit der die drei zum Landesverband Sachsen-Anhalt gehörenden Synagogengemeinden in Magdeburg, Halle und Dessau-Roßlau mit antisemitisch motivierten Straftaten konfrontiert sind, zeigt sich auch in den Antworten auf entsprechende parlamentarische Anfragen: So registrierten die Polizeibehörden im Jahr 2018 für Sachsen-Anhalt drei antisemitische Friedhofsschändungen sowie jeweils im Januar und August Straftaten gegen die Synagoge in Magdeburg und im Mai 2018 eine Straftat gegen die Synagoge in Halle.[4]
Einige weitere Beispiele aus dem letzten Jahrzehnt machen die Bandbreite der antisemitisch motivierten Taten in Sachsen-Anhalt deutlich: Am 14. November 2015 sprengten Unbekannte den Briefkasten der KZ Gedenkstätte in Wernigerode. Ende Oktober 2015 wurden etwa 15 Gräber auf dem Jüdischen Friedhof in Köthen geschändet. Am 4. Oktober 2010 warfen bis heute unbekannte Täter eine Fensterscheibe des zur Moses-Mendelssohn-Akademie gehörenden „MuseumsKaffee Hirsch“ ein. Im Frühjahr 2009 wurde die Fassade der jüdischen Gemeinde in Dessau-Roßlau mit Hakenkreuzen beschmiert; am Dienstfahrzeug der Gemeinde lockerten Unbekannte zwei Radmuttern. In 2006 fanden Einwohner des kleinen Ortes Pretzien, wo zuvor bei einer gemeinsam mit Neonazis organisierten Sonnenwendfeier öffentlich das Tagebuch der Anne Frank verbrannt worden war, in ihren Hausbriefkästen CDs mit einer Rede Adolf Hitlers zur Judenvernichtung.
Rechtfertigung für Mord und Totschlag
Antisemitismus und die offen positive Bezugnahme auf die Ermordung und Mörder von sechs Millionen europäischen Jüdinnen und Juden gehören seit der Befreiung vom Nationalsozialismus zum ideologischen Grundmotiv für Mord und Totschlag durch Rechtsterroristen: Wie etwa im Januar 1979, als Neonazis Sprengsätze an Sendemasten in Koblenz und Münster zündeten, um die Ausstrahlung der Fernsehserie „Holocaust“ zu verhindern. Oder im Dezember 1980, als der jüdische Verleger Shlomo Lewin und seine Lebensgefährtin Frieda Poeschke in ihrer gemeinsamen Wohnung in Erlangen (Bayern) von einem Aktivisten der Wehrsportgruppe Hoffmann erschossen wurden. Ebenfalls 1980 verübten die „Deutschen Aktionsgruppen“ (DA) um Manfred Roeder im Februar einen Brandanschlag auf das Landratsamt Esslingen, der sich gegen eine dort gezeigte Ausstellung über das NS-Vernichtungslager Auschwitz richtete. Bei sechs rassistisch motivierten Bombenanschlägen der DA auf Flüchtlingsheime starben wenige Monate später in Hamburg am 22. August 1980 Ngoc Nguyen und Anh Lan Do.
Die offensive Bezugnahme auf den nationalsozialistischen Völkermord war auch für Neonazis der „Generation Terror“ der 1990er und 2000er Jahre programmatisch – das zeigt sich in den zahlreichen Anleitungen zum Aufbau von Terrorstrukturen für den „führerlosen Widerstand“ wie den „Turner Diaries“ oder dem „Field Manual“ von Blood&Honour. Am 24. März 1994 verübten vier Neonazis einen Brandanschlag auf die Lübecker Synagoge. Am 27. Juli 2000 wurden zehn jüdische Zuwanderer*innen aus den ehemaligen GUS-Staaten in Düsseldorf-Wehrhahn bei einem Sprengstoffanschlag lebensgefährlich verletzt. Im gleichen Zeitraum spähte das NSU-Netzwerk die Synagoge in Berlin-Prenzlauer Berg aus und legte Feindeslisten mit mehr als 200 Adressen jüdischer Institutionen an. Am 8. Januar 2001 verübte die aus dem Umfeld von „Blood&Honour“ stammende „Nationale Bewegung“ einen Brandanschlag auf die Trauerhalle des jüdischen Friedhofs in Potsdam und im April 2002 sprengten Unbekannte die Marmorplatte am Grabmal von Heinz Galinski in Berlin. Für all diese Taten ist bislang niemand strafrechtlich zur Verantwortung gezogen worden.
[1] www.juedische-allgemeine.de/gemeinden/brandanschlag-auf-privathaus/
[2] vgl. Chronik der Mobilen Opferberatung für 2018, 2017, 2010: www.mobile-opferberatung.de
[3] vgl. www.juedische-allgemeine.de/allgemein/das-gedaechtnis-von-halle/
[4] vgl. Antwort der Bundesregierung auf die Schriftliche Fragen Monat Juli 2019 hier Arbeitsnummern 7/343, 344 von MdB Petra Pau (DIE LINKE)