#reclaimandremember: Saarlouis 1991 und Mölln 1992

23.12.2022

Mindestens 1.129 neonazistischen und rassistischen Brandanschlägen wurden zwischen 1990 und 1992 verübt. Dazu gehört auch der mörderische rassistische Brandanschlag am 19. September 1991 in Saarlouis. In dessen Flammen starb Samuel Kofi Yeboah (27), der vor der damaligen Militärdiktatur in Ghana nach Deutschland geflohen war und als Hausmeister in dem ehemaligen Hotel arbeitete, in dem zum Zeitpunkt des Brandanschlags 19 Asylsuchende aus einem halben Dutzend Kriegs- und Bürgerkriegsgebieten lebten. Dazu gehört auch der mörderische Brandanschlag auf das Haus der Familie Arslan in Mölln. Die zehnjährige Schülerin Yeliz Arslan, ihre 14-jährige Cousine Ayşe Yılmaz und Bahide Arslan (51), die Großmutter der beiden Mädchen starben am 23. November 1992.

Eine Entschuldigung nach 30 Jahren

In der schleswig-holsteinischen Landesvertretung in Berlin fand am 8. Dezember 2022 unter dem Motto „Mölln 92/22“ eine szenische Lesung des gleichnamigen Stücks und einer Podiumsdiskussion mit Bildungs- und Kultusministerin Karin Prien  (CDU), Ibrahim Arslan, Überlebender der rassistischen Anschläge von Mölln 1992 und Aktivist im Freundeskreis, der Dramaturgin Stawrula Panagotiaki und Heike Kleffner vom VBRG e.V. statt. In einer bemerkenswerten Rede vor mehr als 100 Gästen, darunter zahlreichen Kulturstaatssekretär*innen u.a. aus Nordrhein-Westfalen und anderer Bundesländer, übermittelte Karin Prien im Namen der Landesregierung erstmals nach 30 Jahren eine Entschuldigung für „Fehler im Umgang mit den Opfern und ihren Angehörigen“ an Ibrahim Arslan und dessen Familie. Die Bildungsministerin betonte:

„Der heutige Abend soll daher auch ein Versuch der Wiedergutmachung sein. Wir strecken den Opfern und ihren Angehörigen die Hand aus. Wir stellen Fragen, hören zu und überlegen, wie wir den weiteren Weg gemeinsam gehen können.“

Dazu, so Prien weiter, „brauchen wir auch eine wirksame Erinnerungskultur und eine starke Zivilgesellschaft.“

Beim Aufarbeiten und Gedenken ginge es „nicht um Schuldzuweisungen“, so Prien. Es gehe vielmehr darum zu erkennen: „Täter kamen und kommen aus unserer Mitte, sie sind vielleicht sogar Nachbarn, Kolleginnen oder Familienmitglieder. Diesen Rassismus beim Namen zu nennen und ihm immer wieder entgegenzutreten, ihn im Keim zu ersticken, das ist unsere Pflicht gleichermaßen als demokratische Gesellschaft und als Rechtstaat.“ Die Ministerin räumte auch ein: „Es wurden nach den Morden von Mölln viele Fehler gemacht.“ Die Reaktionen „unmittelbar nach der feigen Tat, in der Anfangszeit, sind aus heutiger Zeit oft nicht nachvollziehbar“, so Prien. Auch danach habe es „Fehler im Umgang mit den Opfern und ihren Angehörigen“ gegeben. „Sie wurden zu wenig gehört und zu wenig gesehen.“

Gedenkpolitik als gelebte Gesellschaftskritik

„Erst wenn die Betroffenen ihre Geschichten erzählen und ihnen zugehört wird, können wir die Perspektiven des Erinnerns, des Gedenkens und gegenwärtige Erzählungen verändern“, betonte Ibrahim Arslan in seiner Rede in Berlin.

„Gedenkpolitik ist für uns gelebte Gesellschaftskritik. Solidarität bedeutet für uns, die dringenden Fragen nach Gerechtigkeit, nach ausgegrenzten Geschichten und nach der Gewalt unserer gegenwärtigen Gesellschaft zu stellen. Solidarität bedeutet für uns, sich mit Überlebenden und Betroffenen dieser Gewalt zu verbünden.“

Eindringlich wies Ibrahim Arslan darauf hin, dass es „viele Erfahrungen und Geschichten, viele Verletzungen, viele Wünsche und Bedürfnisse, viele Perspektiven“ gebe, denen zugehört werden solle. „Diese gilt es aus der Vereinzelung zusammenzubringen. Zu vernetzen. Zu vervielfältigen. In den Vordergrund zu stellen.  Und so Gedenkpolitiken herauszufordern. Als Kollektiv in der Vielfalt“.

Saarlouis: Erste Zeugenaussagen von Überlebenden nach 31 Jahren am Oberlandesgericht Koblenz

Zehn Tage nach der Veranstaltung in der schleswig-holsteinischen Landesvertretung sagten am Oberlandesgericht Koblenz erstmals nach 31 Jahren drei Überlebende des rassistischen Brandanschlags in Saarlouis aus, bei dem am 19. September 1991 der damals 27-Jährige Samuel Kofi Yeboah starb. Einer der Zeugen hatte sich mit einem Sprung aus dem Fenster seines Zimmers im 2. Stock vor den Flammen und dem Qualm gerettet und beschrieb im Gerichtsaal eindringlich, wie ihn die Erinnerung an die Hilferufe des eingeschlossenen Mitbewohners bis heute begleiten: „ Samuel Yeboah schrie auf Deutsch und auf Englisch ‚help me’ und irgendwann hörte er auf zu schreien“, so der Überlebende. „Wir konnten ihn hören, aber weil das Treppenhaus voller Flammen und Rauch war, konnte die Feuerwehr nicht zu ihm“.

Wie sehr der rassistische Brandanschlag in Saarlouis, mit dem die örtliche Neonaziszene die Botschaft des rassistischen Pogroms in Hoyerswerda aufgriff, das Selbstbewusstsein der Neonazis stärkte, wurde in der Aussage des ersten Überlebenden deutlich. „Ein paar Wochen nach dem Brandanschlag durchschlug ein brennender Molotow-Cocktail die Fensterscheibe zu unserem Zimmer im Übergangswohnheim in Saarlouis“, sagte der Zeuge. „Zum Glück war im Zimmer kein Teppich und wir konnten die Flammen direkt ersticken. Die grölenden Täter konnten wir auf der Straße noch hören.“ Wie schon nach dem Mord an Samuel Kofi Yeboah zeigte die örtliche Polizei wenig Interesse an einer effektiven Strafverfolgung auch nach dem zweiten rassistischen Brandanschlag. Eindringlich schilderten die Zeugen, dass sie nach dem Brandanschlag am 19. September 1991 frierend und unter Schock über Stunden auf ihre Vernehmung warten mussten und dann vorwiegend danach gefragt wurden, ob es im Wohnheim Streit unter den Bewohnerinnen gegeben habe.

Rechtsterrorismus-Opferfonds im Saarland

Am Ende des Prozesstags betonten Vertreter*innen des Flüchtlingsrat Saarland e.V., des VBRG und der Nebenkläger:

„Die Überlebenden des Brandanschlags vom 19. September 1991 in Saarlouis leiden bis heute an den Folgen der Tat.“

Sie forderten die saarländische Landesregierung auf, „endlich Verantwortung zu übernehmen und einen Rechtsterrorismus-Opferfonds für die Überlebenden und Hinterbliebenen des Brandanschlags am 19. September 1991 in Saarlouis einzurichten“. Sie verwiesen auch auf Ibrahim Arslan und dessen Beitrag in der Open Lecture #6 des VBRG: „Ohne das kontinuierliche Gedenken an Samuel Kofi Yeboah durch antifaschistische Bündnisse und den Flüchtlingsrat Saarbrücken wäre es zu dieser Strafverfolgung nie gekommen“, hatte Ibrahim Arslan betont und erinnert: „Die Überlebenden sind die Hauptzeugen des Geschehens und keine Statisten“.

Der Prozess am OLG Koblenz wird in 2023 jeweils Montags und Dienstags fortgesetzt und vom Flüchtlingsrat Saarland, Aktion 3. Welt Saar sowie VBRG und NSU Watch begleitet. Denn auch unabhängig vom Ausgang der Hauptverhandlung ist mit diesem Prozess schon jetzt eine eindringliche Botschaft gegen die Kultur der Straflosigkeit der Baseballschlägerjahre verbunden.

Weitere Informationen:

Wortlaut der Rede von Ministerin Karin Prien (CDU) am 8.12.2022 in der Landesvertretung Schleswig-Holstein: https://www.schleswig-holstein.de/DE/landesregierung/ministerien-behoerden/III/Ministerin/Reden/_documents/Reden_2022/2022_KMK_Moelln.html

Podcast #31: Eine aktuelle Bestandsaufnahme zu Strafverfolgung, Anerkennung und erkämpften Gedenken nach rassistischen und antisemitischen Brandanschlägen mit Ibrahim Arslan, Überlebender der rassistischen Brandanschläge von Mölln und Aktivist im Freundeskreis im Gedenken an die rassistischen Brandanschläge in Mölln, Rechtsanwältin Kristin Pietrzyk, Nebenklagevertreterin von Überlebenden des rassistischen Brandanschlags in Saarlouis am 19. September 1991, die Kriminologin Jana Berberich und Fabian Reeker von der Opferberatung Rheinland (OBR): https://verband-brg.de/folge-31-vor-ort-gegen-rassismus-antisemitismus-und-rechte-gewalt-die-podcastserie-von-nsu-watch-und-vbrg-e-v/

Möllner Rede im Exil 2022: https://kampnagel.de/produktionen/moellner-rede-im-exil: https://kampnagel.de/produktionen/moellner-rede-im-exil