Dokumentation:
JUBILÄUMS-SYMPOSIUM
Solidarität mit den Betroffenen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt
Solidarisch und professionell – Eine Zwischenbilanz nach zwei Jahrzehnten unabhängiger Beratung für Betroffene rassistischer, rechter und antisemitischer Gewalt
3. September 2019 // Leipzig // Theater der Jungen Welt
Die Frage, wie eine solidarische Praxis mit allen Betroffenen rechter, rassistischer und antisemitischer Angriffe angesichts der Gefahr einer weiteren Eskalation rechter Gewalt aussehen kann, steht im Mittelpunkt der Arbeit der Opferberatungsstellen und war das zentrale Thema des VBRG-Symposiums am 3. September 2019 in Leipzig. Für alle, die nicht dabei sein konnten, dokumentieren wir hier Auszüge aus Beiträgen und Inputs, Fotos und Presseberichte.
Podcast: NSU-Watch: Aufklären & Einmischen #34 – Veranstaltung: “Die Folgen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt bewältigen. Von der Notwendigkeit der Solidarität!”
Pressestatement: Was wir dringend brauchen ist eine neue Kultur der Solidarität. Von Judith Porath, Geschäftsführerin der Opferperspektive e.V. in Brandenburg, und Vorstandsmitglied im VBRG e.V.
Presseartikel zur Pressekonferenz mit Dr. Matthias Quent (Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft, Jena) und Vertreter*innen der Opferberatungsstellen aus Brandenburg, Sachsen und Thüringen
Konferenzbeitrag: „Solidarität muss die Antwort auf das Verschweigen, Verharmlosen und Negieren von rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt sein“ von Judith Porath, Geschäftsführerin der Opferperspektive e.V. in Brandenburg, und Vorstandsmitglied im VBRG e.V.
Überarbeiteter Konferenzbeitrag: Opfer und Überlebende sind keine Statist*innen, sondern die Hauptzeug*innen des Geschehenen von Ibrahim Arslan, Aktivist, Opfer und Überlebender des rassistischen Anschlags 1992 in Mölln und Initiator der „Möllner Rede im Exil“
Konferenzbeitrag: Professionalität in der Beratung von Betroffenen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt von Prof. Melanie Gross von zebra – Zentrum für Betroffene rechter Angriffe in Schleswig-Holstein e.V.
Konferenzbeitrag: „Zwei Jahrzehnte Opferberatung im Fokus wissenschaftlicher Begleitforschung“ von Dr. Ursula Bischoff, Deutsches Jugendinstitut Halle
Download: Programm des Jubiläums-Symposium
Podcast: Mitschnitt der Veranstaltung “Die Folgen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt bewältigen. Von der Notwendigkeit der Solidarität!”
In Folge #34 von NSU-Watch: Aufklären & Einmischen. Der Podcast über den NSU-Komplex, rechten Terror und Rassismus“ ist der Mitschnitt der Veranstaltung “Die Folgen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt bewältigen. Von der Notwendigkeit der Solidarität!”” zu hören. Die Podiumsveranstaltung fand am 3. September 2019 in Leipzig im Rahmen des Jubiläums-Symposiums des Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt, “Solidarität mit den Betroffenen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt” statt.
Auf dem Podium saßen:
- Seda Başay-Yıldız (Rechtsanwältin, Frankfurt/Main)
- Prof. Dr. Manuela Bojadžijev (Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung, Leuphana Universität Lüneburg)
- Esther Dischereit (Schriftstellerin, Berlin)
- Ferat Ali Kocak (Antirassistischer Aktivist, Berlin)
- Robert Kusche (Geschäftsführer, RAA-Sachsen e.V., Vorstand VBRG e.V.)
- Philipp Pommer (Bündnis gegen Rechtsextremismus, Eisenach) und weiteren Gästen
- Moderation: Nhi Le (Freie Journalistin, Leipzig) und Heike Kleffner (Geschäftsführerin VBRG e.V., Berlin)
Was wir dringend brauchen ist eine neue Kultur der Solidarität. Eine Kultur der Solidarität mit allen Betroffenen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt!
Auszüge aus dem Statement von Judith Porath, Geschäftsführerin der Opferperspektive e.V. in Brandenburg, und Vorstandsmitglied im VBRG e.V. bei der Pressekonferenz am 3.9.2019 im Rahmen des Symposiums
Was wir dringend brauchen ist eine neue Kultur der Solidarität. Eine Kultur der Solidarität mit allen Betroffenen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt! Denn wir wissen, dass es auch nach schwersten rassistischen und rechten Angriffen für die Betroffenen einen erheblichen Unterschied macht, ob sie vor Ort alleine gelassen werden oder ob es Menschen gibt die sie vor Ort unterstützen und ihnen bei der Bewältigung der Angriffsfolgen ganz konkret zur Seite stehen.
Das ist keineswegs abstrakt, sondern sehr konkret und das möchten wir an praktischen Beispielen erläutern:
Wir wünschen uns, dass jede Kommune und jede Verwaltung eine Ansprechpartner*innen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt benennt, der*die den Angegriffenen Glauben schenkt und ihnen innerhalb der Verwaltung und/oder Kommune Hilfestellung leistet.
Was wir damit konkret meinen: Wenn beispielsweise ein Imbiss oder eine Gaststätte mit Hakenkreuzen beschmiert worden ist, wird der Betreiber üblicherweise vom Ordnungsamt aufgefordert, die Nazipropaganda selbst und auf eigene Kosten zu entfernen. In diesem Fall könnte die Ansprechperson der Kommune dafür sorgen, dass die Beseitigung der Hetze von den kommunalen Reinigungskräften übernommen wird. ODER: Nach einen Angriff durch Neonazis in oder vor einer städtischen/ kommunalen Jugendeinrichtungen, bei Bedrohungen/Angriffe von Angestellten aus den Kommunalverwaltungen durch Reichsbürger ist es für die betroffenen Menschen wichtig, eine Ansprechperson in der Kommunalverwaltung zu haben, an die sie sich unmittelbar wenden können und die z.B. am Arbeitsplatz Unterstützungs- und Schutzmaßnahmen einleiten kann.
Die Arbeit dieser kommunalen Beauftragten sollte einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht werden, um damit deutlich zu machen, dass die Kommune und ihre Verwaltung rechte und rassistische Gewalt ernst nehmen und sich hinter die Betroffenen stellen. Sie entziehen damit den Täter*innen und ihrem Sympathisant*innen gleichzeitig den Legitimationsraum, um sich als Vollstrecker*innen eines vermeintlichen Volkswillens zu inszenieren.
Wir wünschen uns, dass Kommunen und Vereine nach rassistischen Angriffen sofort und unmissverständlich öffentlich reagieren und den Täter*innen die rote Karte zeigen. So wie beispielsweise der Internationale FC in Rostock. Als ein Spieler des Vereins im Dezember 2018 beim Einkauf in einem Supermarkt in Rostock vor den Augen seiner Lebensgefährtin und seines Kleinkindes von einem Paar rassistisch beleidigt und dann mit einem Hammer schwer am Kopf verletzt wurde, verurteilte der Internationale FC den Angriff nicht nur öffentlich, sondern machte durch Öffentlichkeitsarbeit und anhaltende Unterstützung für den Betroffenen deutlich, dass der gesamte Verein an der Seite des Angegriffenen steht.
Wir wünschen uns: dass Solidarität keine Strohfeuer und keine Imagefotos bei einem einmaligen Besuch von Politiker*innen sind.
Was wir damit konkret meinen: Die meisten Gerichtsprozesse finden erst viele Monate, wenn nicht gar Jahre nach einem rechten, rassistische oder antisemitisch motivierten Angriff statt. Damit die Betroffenen nicht alleine mit den Täter*innen und deren Freund*innen im Gerichtssaal sind, braucht es Menschen, die sie dorthin begleiten. Auch allem Vertreter*innen der Kommune, von Vereinen, Initiativen und Politiker*innen können durch ihre Anwesenheit als Prozessbeobachter*innen deutlich machen: Strafverfolgung ist wichtig und die Opfer rassistischer Gewalt sind nicht alleine.
Wir wünschen uns eine neue Kultur der Solidarität, die Nazischläger vor die Tür setzt. So wie in Regensburg, als nach einem Neonaziangriff auf einen Barkeeper, der zuvor eine Schwarze Frau und ihre Kinder vor rassistischen Beleidigungen und Bedrohungen geschützt hatte, aus Solidarität mit dem Angegriffenen mehr als zwei Dutzend Gastwirte Neonazis zu unerwünschten Gästen in ihren Kneipen erklärten. Wir wissen, dass es dafür Mut braucht, sich so konsequent an die Seite der Betroffenen zu stellen. Diesen Mut wünschen wir allen Menschen, die in einer offenen, solidarischen Gesellschaft leben wollen.
Eine neue Kultur der Solidarität mit den Betroffenen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt bedeutet für alle, die in einer offenen und demokratischen Gesellschaft leben wollen, zusammenzustehen: Nicht nur in großen Städten, sondern überall – auch in Kleinstädten und Gemeinden wie Wurzen, Bautzen, Altenburg, Anklam, Neuruppin oder Halberstadt. Gerade in ländlichen Regionen und in kleineren Städten ist es enorm wichtig, den Bedrohten und Angegriffenen den Rücken zu stärken und Projekten die z.B. Freiräume für Geflüchtete, Nicht-Rechte und Alternative sind und von extrem Rechten Netzwerken und Parteien diffamiert werden, zu unterstützen.
Eine neue Kultur der Solidarität braucht finanzielle Hilfe zur Bewältigung der Angriffsfolgen. Zum Beispiel für Anwalts- und Fahrtkosten, denn spezialisierte Nebenklageanwälte sind notwendiger denn je. Der gesellschaftliche Rechtsruck macht sich auch in den Ermittlungsbehörden und der Justiz bemerkbar. Wir haben mit immer mehr Fällen zu tun, in denen die eigentlichen Opfer in klassisch rassistischer Täter-Opfer-Umkehr zu Tätern gemacht werden. Daher bitten wir um Spenden für den Opferhilfefonds des VBRG e.V..
Eine neue Kultur der Solidarität bedeutet auch, dass es ein humanitäres Bleiberecht Betroffene rassistischer Gewalt geben muss, anstatt die Opfer im laufenden Strafverfahren abzuschieben. Ein bundesweites humanitäres Bleiberecht für Opfer rassistischer Gewalt wäre ein wichtiges Signal, dass der Staat sich auf die Seite der Angegriffenen und nicht auf die der Schläger stellt und mit der Abschiebung den Willen der Täter, die Betroffenen zu vertreiben, auch noch vollstreckt.
Rechter, rassistischer und antisemitischer Hass, die organisierte Hetze und Gewalt richten sich letztendlich gegen uns alle die wir uns für eine offene, demokratisch und vielfältige Gesellschaft einsetzen. Deshalb stärkt eine neue Kultur der Solidarität uns alle. Genau wie zur Zeit der Gründung der ersten spezialisierten Beratungsstellen vor gut 20 Jahren sind wir davon überzeugt, dass wir nur gemeinsam gegen die rechten Hetzer und Menschenfeinde stark sind und Solidarität damals wie heute die Antwort sein muss. Erst, wenn wir die unmittelbar Betroffenen und Angegriffenen nicht mehr alleine lassen, ihren Perspektiven und ihren Forderungen Gehör schenken und sie ernst nehmen, erst dann wird es uns gelingen, die Täter*innen und ihren Sympathisant*innen und Nachahmer*innen zu isolieren und rechte Gewalt zurückzudrängen.
Presseartikel zur Pressekonferenz im Rahmen des Symposiums
• Süddeutsche Zeitung vom 3. September 2019: Experten warnen vor Zunahme rechter Gewalt (via dpa-Newskanal)
Leipzig (dpa/sn) – Zwei Tage nach den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg haben Vertreter von Beratungsstellen für Opfer von Rassismus vor einem Anstieg rechter Gewalttaten gewarnt. „Täter fühlen sich durch den aktuellen Rechtsruck gestärkt“, sagte Judith Porath, Geschäftsführerin des Vereins Opferperspektive Brandenburg, am Dienstag in Leipzig. Rassistisch motivierte Gewalttaten würden mittlerweile „als beiläufig oder Normalität wahrgenommen“, warnte Porath im Vorfeld eines Symposiums zu rassistischer und antisemitischer Gewalt. In der vergangenen Zeit träten Täter immer selbstbewusster auf, demonstrierten eine „Lust an Gewalt“, berichtete Porath. weiterlesen>
• Migazin vom 4. September 2019: Warnung vor mehr rechter Gewalt im Osten
Opferberater werben für eine „neue Kultur der Solidarität“ mit den Opfern rechter und rassistischer Gewalt. Gerade nach den kräftigen Zugewinnen der AfD bei den jüngsten Wahlen befürchten sie, dass Worten künftig noch häufiger Taten folgen könnten. Zwei Tage nach den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg haben Berater von Opfern rechter Gewalt vor einer Zunahme rassistisch motivierter Taten gewarnt. „Wir befürchten eine weitere Eskalation von rechten Gewalttaten“, sagte die Geschäftsführerin des Brandenburger Vereins Opferperspektive, Judith Porath, am Dienstag in Leipzig. weiterlesen>
• Christian Jakob in der taz vom 4. September 2019: Verbände gegen rechte Gewalt: Jetzt erst recht!
LEIPZIG taz | Etwas „Hoffnung verbreiten“, sagt Heike Kleffner, das hatten sie sich für den Tag zwei nach den Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen vorgenommen. Kleffner recherchiert seit Jahrzehnten als Journalistin zum Thema rechte Gewalt, zudem arbeitet sie beim Verband der Beratungsstellen (VBRG) für deren Opfer. Der Verband feierte am Dienstag seinen 20. Geburtstag und veranstaltete dazu ein Symposium im Leipziger Theater der jungen Welt. Die Frage des Tages: Wie soll man damit umgehen, dass immer mehr Menschen sich berechtigt fühlen, völkische Vorstellungen mit Gewalt durchzusetzen? weiterlesen>
Solidarität muss die Antwort auf das Verschweigen, Verharmlosen und Negieren von rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt sein
Auszüge aus der Eröffnungsrede des VBRG-Symposiums am 3.9.2019 in Leipzig von Judith Porath, Geschäftsführerin der Opferperspektive e.V. und Vorstandsmitglied des VBRG e.V.
Als wir vor etwas mehr als 20 Jahren – kurz vor der Jahrtausendwende – in Brandenburg mit der Opferperspektive anfingen, die erste spezialisierte Beratungsstelle für Betroffene rechter und rassistischer Gewalt in der Bundesrepublik aufzubauen, war die gesellschaftliche Situation davon geprägt, dass rechte Gewalt einfach verschwiegen und verharmlost wurde und die Opfer dieser Attacken, ihre Familien und Freund*innen auch nach schwersten Gewalttaten alleine dastanden. Die Situation Ende der 1990er Jahre war auch davon geprägt, dass stattdessen die Täterperspektive im Mittelpunkt der medialen und politischen Aufmerksamkeit standen. Heute ist die gesellschaftliche Situation davon geprägt, dass in Brandenburg 60 Prozent und in Sachsen 70 Prozent der AfD-Wähler*innen aus Überzeugung eine ultrarechte Partei wählen, deren Vertreter*innen offen die Shoa relativieren, die zur Jagd auf demokratische Politiker*innen aufrufen, und – wie gerade in Brandenburg passiert – wenig Hehl aus ihrer Neonazivergangenheit machen. Sie ist auch davon geprägt, dass der langjährige CDU-Regierungspräsident von Kassel, Dr. Walter Lübcke, im Juni 2019 Opfer eines neonazistischen Mordanschlags wurde und es nur kurze Zeit später einen Mordanschlag auf einen eritrischen Geflüchteten in Wächtersbach gab.
Die Netzwerke militanter Neonazis sind bestens koordiniert.
Die aktuelle Situation auch ist davon geprägt, dass persönliche Daten engagierter Menschen aus Polizeicomputern an Neonazistrukturen gelangen und Betroffene darüber noch nicht einmal informiert werden. Und dass wir allen Ernstes darüber debattieren, ob die Hetzjagd und die Angriffe auf Geflüchtete, Rassismusbetroffene und politisch gegen Rex und Rassismus Engagierte in Chemnitz im Sommer 2018 geplant waren – OBWOHL die Betroffenen genau dies glaubhaft berichteten und eindeutige Foto- und Videobeweise sowie Chatprotokolle der Angreifer*innen vorliegen. Dabei müssten es alle – insbesondere die Ermittlungsbehörden – aus Erfahrung wissen: Die Netzwerke militanter Neonazis sind bestens koordiniert. Sie sind in der Lage, Angriffe auch innerhalb kürzester Zeit zu planen und durchzuführen. Das wurde u.a. beim Überfall von 250 Hools und Neonazis in Leipzig-Connewitz im Januar 2016 deutlich.
Was wir uns stattdessen fragen sollten: Warum haben die Polizei und andere Sicherheitsbehörden nicht alles getan, um die Betroffenen rechter Gewalt zu schützen: in Freital, Frankfurt am Main, Dortmund, Chemnitz? OBWOHL die Behörden bestens informiert sind – über die Bewaffnung der Neonazinetzwerke und vermeintliche Einzeltäter, über die Sammlungen von so genannten „Feindlisten“ politischer Gegner*innen durch Netzwerke wie Nordkreuz, die auch noch planten Leichensäcken und Ätzkalk für den Tag X zu ordern.
Als wir überlegten, was wir anlässlich des 20 jährigen Bestehens von fachspezifischen Opferberatungsstellen in Ostdeutschland und des knapp zehnjährigen Bestehens der Beratungsstellen in Westdeutschland machen wollten, war uns vor allem eines wichtig: Deutlich zu machen, dass es breite gesellschaftliche Bündnisse der Solidarität mit den Angegriffenen und Bedrohten rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt braucht. Denn es sind diese solidarischen Menschen und Bündnisse vor Ort, die auch noch Jahre später da sind. Nämlich dann, wenn endlich das Gerichtsverfahren gegen die Täter*innen stattfindet und die Betroffenen ihren Peinigern wieder gegenübertreten müssen oder wenn das ausgebrannte Lokal endlich wieder eröffnen kann und die Gäste nur zögerlich zurückkommen. Diese engagierten Menschen machen für viele Betroffene den entscheidenden Unterschied, ob sie bleiben können oder ihren Wohnort verlassen müssen. Denn sie zeigen mit ihrer Solidarität des langen Atems: Du bist nicht allein! Wir stehen an deiner Seite.
Eine Solidarität des langen Atems
In den vergangenen zwei Jahrzehnten unterstützten die fachspezifischen Opferberatungsstellen mehrere tausende Menschen bei der Bewältigung körperlicher, psychischer und materieller Angriffsfolgen. Und dennoch sind viele tausende alleine geblieben, hatten keine Unterstützung, eine Hilfe. So wie die Angehörigen der NSU Morde. Sie wurden in klassischer rassistischer Täter-Opfer-Umkehr verdächtigt, kriminalisiert und gesellschaftlich isoliert.
Als Opferberatungsstellen wissen wir um unsere Grenzen und wir wissen auch, dass wir diese Grenzen nur gemeinsam überwinden können – in Diskussionen und Debatten unter solidarischen Menschen, Initiativen und Gruppen.
Mit der aufsuchenden Arbeit sind die Opferberatungsstellen täglich in ganz Deutschland unterwegs. Die dramatischen Veränderungen im gesellschaftspolitischen Klima bekommen zu aller erst die Menschen zu spüren, die wir beraten und auch uns macht es fast sprachlos, dass Rassismus, Antisemitismus und Menschenverachtung wieder so schnell gesellschaftsfähig – ja mancherorts sogar mehrheitsfähig werden konnten. Inzwischen vertritt jeder Dritte rassistische Positionen. In Ostdeutschland ist es sogar jeder zweite. Rassismus und Antisemitismus sind die Katalysatoren für Diskriminierungen und rechte Gewalttaten. Beides hat in einem Maße zugenommen, dass die Angriffszahlen der 1990er Jahre längst erreicht sind. Der Hass, die Ablehnung, die Gewalt richtet sich gegen alle, die in rechten Ideologien als „Anders“ bzw. „die Anderen“ markiert werden, die widersprechen und sich für eine offene, vielfältige Gesellschaft einsetzen.
Die Bilder der letzten vier Jahre aus Cottbus, Chemnitz und Wurzen erinnern uns schmerzlich an die Pogrome, Brandanschläge und Hetzjagden der 1990er Jahre. Das war auch die Zeit, in der sich die Opferperspektive 1998 in Brandenburg gründete. Als kleine ehrenamtliche Initiative machen wir uns damals auf dem Weg, um die Betroffenen rechter und rassistischer Gewalt zu unterstützen – inzwischen sind wir Teil eines großen, bundesweiten Netzwerkes.
Und mehr denn je- und genau wie damals – sind wir überzeugt davon, dass wir nur gemeinsam gegen die rechten Hetzer und Menschenfeinde stark sind. Auch deshalb gehören die Beratungsstellen zu den Erstunterzeichner*innen des Aufrufs von #unteilbar. Auch deshalb waren und sind die 40.000 Menschen, die am 24. August 2019 in Dresden auf der Straße waren, für uns alle ein Zeichen der Hoffnung. Und mehr denn je – und genau wie Ende der 1990er Jahre – sind wir davon überzeugt, dass Solidarität damals wie heute die Antwort sein muss.
Opfer und Überlebende sind keine Statist*innen, sondern die Hauptzeug*innen des Geschehenen
Überarbeiteter Symposiumsbeitrag von Ibrahim Arslan, Aktivist, Opfer und Überlebender des rassistischen Anschlags 1992 in Mölln und Initiator der „Möllner Rede im Exil“
Liebe Betroffene neofaschistischer, rassistischer und rechter Gewalt,
Sehr geehrte Damen und Herren,
vielen Dank für die Einladung zum Jubiläums-Symposium „Solidarisch und professionell – Eine Zwischenbilanz nach zwei Jahrzehnten unabhängiger Beratung für Betroffene rassistischer, rechter und antisemitischer Gewalt“. Und vielen Dank auch an alle Panelteilnehmer*innen, die mit ihren Redebeiträgen und Expertisen ihre Perspektiven auf das Thema vorgestellt haben. Ich habe viel aus den Diskussionen gelernt.
Leider gab es im Eröffnungspanel am Tag selber nicht ausreichend Zeit detailliert, vielstimmig, multiperspektivisch und kontrovers über die Themen zu sprechen. Ich möchte mit meinem erweiterten Grußwort diese Möglichkeit nachholen.
Einerseits habe ich habe mich über die Einladung des VBRG e.V. gefreut, hier heute meine Perspektive nach zwei Jahrzehnten solidarisch-professioneller Betroffenenarbeit mitzuteilen. Andererseits hat mich die Einladung auch sehr nachdenklich gestimmt:
Welche Botschaft kann ich Ihnen heute zwei Tage nach den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg aussprechen?
Die Leitbotschaft des Jubiläums klagt die „Solidarität mit den Betroffenen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt“ ein.
Wie können wir, frage ich Sie, liebe Betroffenen und liebe Damen und Herren, partnerschaftliche Solidarität auf Augenhöhe als politischer Prozess mit Betroffenen rechter Gewalt organisieren, nachdem sie uns schon in den 1970ern, in den 1980ern, dann in den 1990ern, 2000ern und auch heute wieder töten?
Auch wenn es mir schwer fällt, angesichts des Mordens und dem Verstummen und Weggucken Deutschlands vor dem Morden eine Gegenstrategie vorzustellen, möchte ich Ihnen entlang von drei Punkten vorstellen, wie wir die nächsten zwei Jahrzehnte solidarische und professionell Beratungsarbeit re-organisieren können.
1. Die dringende Notwendigkeit über Rassismus und den Rechtsterrorismus zu sprechen
Es ist nur ein Jahr seit dem verheerenden Urteil des Oberlandesgerichts in München im NSU-Prozess vergangen. Und obwohl die Bundeskanzlerin nach der Selbstenttarnung den Betroffenen eine lückenlose Aufklärung versprochen hatte, müssen wir heute, und das ist mein erster Punkt, noch sehr viel lauter über Unteilbarkeit und Solidarität sprechen: Weil das Urteil in München den NSU-Komplex weder aufgedeckt noch alle Täter verurteilt hat. Stattdessen hat das Urteil die Opfer des NSU und damit alle Opfer rechten-rassistischen, menschenverachtenden Hasses verhöhnt und alleine gelassen.
Das Urteil, die Justiz, die Polizei, die Gerichte und die Politik haben den Betroffenen ihr letztes bisschen Vertrauen entrissen. Wir wissen, dass es als Betroffener rechter Gewalt kein Vertrauen in staatliche Instanzen geben kann, weil unsere Rechte als Migrant*innen auch hier keine Rolle spielen. Die Opfer wurden sogar ein weiteres Mal ermordet. Deshalb muss heute dringenderweise von der Politik und der Öffentlichkeit vor allem gegenüber allen Betroffenen rassistischer Gewalt erneut unteilbare Solidarität ausgesprochen werden. Erinnern Sie sich an die Worte der Nebenklage, die davor gewarnt hat, dass die milden Urteile weiteren rechten Täterinnen und Tätern ein Signal senden werden? Dass sie in diesem Land weiterhin Menschen bedrohen, schikanieren, verängstigen und sogar ermorden können, die ihnen aufgrund ihres nazistischen Weltbilds nicht in ihre Ideologie passen? Genauso ist es gekommen, dieses Signal wurde gehört. Nur ein Jahr nach dem Urteil müssen wir heute weitere Opfer des rechten Terrors beklagen. Der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke ist erst im Juli 2019 von Neonazis aus demselben Täter*innen-Netzwerk des NSU hingerichtet worden, das während des langjährigen Gerichtsprozesses in München nicht offengelegt worden ist. Walter Lübcke musste sterben, weil er sich wie viele andere hierzulande für Menschenrechte und ein demokratisches Zusammenleben mit geflüchteten Menschen in Deutschland eingesetzt hat.
Gleichzeitig möchte ich betonen, dass es Rassismus und Hass gegen Migrant*innen nicht erst seit dem NSU-Terror gibt und leider auch nicht erst seit dem Tod von Walter Lübcke. Rassismus gab es auch davor. Leider gab es in den 1970er, 1980er, 1990er und teilweise in den 2000er Jahren keine Opferberatungsstellen, leider gab es keine Stellen, wo Betroffene hingehen konnten. Heute gibt es sie und wir werden versuchen, Betroffene zu ermutigen, dorthin zu gehen, damit sie dort ihre Stimmen erheben zu können. Aber auch hier: Auch diese Menschen hatten schon immer eine Stimme.
Wir verstehen daraus, erstens, dass es eine akute lebensbedrohliche Gefahr durch den Rechtsterrorismus gibt, zweitens, dass verantwortliche staatliche Organe uns nicht schützen und drittens, dass Opfer und Betroffene weiterhin ignoriert werden.
Aber wie?
2. Die dringende Notwendigkeit über Rassismus und den Rechtsterrorismus aus der Perspektive der Betroffenenperspektive zu sprechen
Deshalb ist mir persönlich sehr deutlich, was es bedarf: Ich wiederhole meinen ersten Punkt: Wir brauchen Solidarität und vor allem das Sprechen über Rassismus. Aber wie sprechen wir heute nach zwei Jahrzehnten Betroffenenarbeit und Selbstorganisierung von Migrant*innen und Betroffenen rechter-rassistischer Gewalt über Solidarität und Rassismus? Damit sind wir bei meinem zweiten Punkt angelangt. Ich möchte mich an dieser Stelle Ihnen nochmals vorstellen, um meine zweite Frage, wie wir heute über Rassismus und Solidarität sprechen, zu beantworten:
Mein Name ist Ibrahim Arslan und ich bin Opfer und Überlebender der rassistischen Brandanschläge von Mölln 1992. Ich bin hier heute stellvertretend für meine Familie und Betroffene rechter und rassistischer Gewalt anwesend. Daher ist es mir eine große Ehre, hier das Wort zu ergreifen. Ich möchte jedoch betonen, dass ich heute meinen eigenen Standpunkt erläutere. Ich mache seit 2007 Betroffenen- beziehungsweise Opferarbeit. In diesen zwölf Jahren haben meine Familie und ich immer wieder betont, wie wichtig es ist, die Betroffenen an dem Gedenken, den Strafprozessen und der politischen Intervention zu beteiligen, denn sie sind die Hauptzeug*innen des Geschehenen und keine Statisten. Wir haben uns immer wieder mit Fragen beschäftigt, die für uns wichtig waren, beispielsweise etwa mit der Frage: Werden Betroffene instrumentalisiert und mundtot gemacht? Können institutionelle Gedenkveranstaltungen eigentlich authentisch sein oder haben nicht die Betroffenen eigentlich die Herrschaft über das Gedenken? Diese und weitere wichtige Fragen waren für meine Familie wichtig, um einen respektvollen Umgang mit Betroffenen und deren Familien in der Gedenkkultur zu ermöglichen.
Was ist noch passiert in diesen zwölf Jahren? Wir haben mit unserem Widerstand und unserer Empowerment-Arbeit weitere Betroffene überzeugt, gegen die Gedenkkultur der Behörden, die sie oftmals als passive Menschen behandelt, aktiv aufzustehen. Wir haben betroffene Familien mobilisiert und organisiert, obwohl der rechte Terror währenddessen noch mehr Menschen von uns nahm und sehr viele zu weiteren Betroffenen machte. Doch die Betroffenen haben sich nicht unterkriegen lassen. Mittlerweile organisieren sie Veranstaltungen, schreiben Bücher, machen Filme, sie entwickeln Theaterstücke, sind in Schulen oder gehen auf Demonstrationen. Schlichtweg, sie sind aktiv und leisten Widerstand gegen Rassismus und Faschismus.
Auch Initiativen und Opferverbände, die mit Betroffenen arbeiten, haben dies gemerkt und vernetzen sich. Wir sehen überall in Deutschland, wie sich neue Initiativen und Opferverbände gründen. Sie wachsen quasi wie Pilze aus dem Boden heraus. Mittlerweile ist Deutschland sogar ein Exempel für andere Länder geworden, aus Österreich, Frankreich, Polen, der Schweiz, selbst aus Amerika bekommen wir Anfragen. Sie möchten erfahren, wie wir es schaffen, so eng mit Betroffenen zusammenzuarbeiten und wie ein respektvolles Gedenken funktionieren kann.
Was ich ihnen am Beispiel dieser Arbeit zeigen möchte ist, dass Betroffene Aktivist*innen werden, und als Hauptzeugen Wissen haben, das sie effektiv einzusetzen wissen in der Verteidigung nicht nur ihrer Opfer, sondern auch in der antirassistischen und antifaschistischen-demokratischen Verteidigung der Gesellschaft. Behörden müssen aufhören, Migrant*innen in Almanya als Objekte anzusehen. Auch wenn wir Opfer sind und Repressionen ausgesetzt werden, wir wissen sehr wohl, wie ist es, ohne die Staatsbürgerschaft, ohne gleiche Rechte, ohne Gleichberechtigung, ohne Anerkennung von der Mehrheitsgesellschaft aus, uns nicht zu beugen, selbstzuorganisieren und zu kämpfen. Wenn wir also in Zukunft über Rassismus und professionelle und solidarische Betroffenenberatung sprechen, dann muss das auf partnerschaftlicher Augenhöhe durch eine radikale Partizipation mit den Betroffenen passieren. Partnerschaftliche Solidarität ist, wie wir zusammen kämpfen und uns zusammen organisieren möchten.
Wir müssen auch über Unterschiede sprechen
Lassen Sie mich an dieser Stelle auch kritisch werden. Es gibt auch Unterschiede in der Reichweite der Arbeit von Betroffenen und der von professionellen Berater*innen. Prof. Melanie Groß von der Hochschule Kiel etwa hat in ihrem Beitrag beim Symposium mehrere Thesen zu professioneller Beratungsarbeit aufgestellt. Ich habe aus der Perspektive der Arbeit, die ich in den letzten zwölf Jahren als Betroffener organisiert habe, viele Ähnlichkeiten zu den wissenschaftlichen Standards gesehen, die sie vorgestellt hat. An vielen Stellen machen wir aber unterschiedliche Erfahrungen. Etwa dort, wo Melanie Groß beobachtet, dass ihre Studierenden sich ihrer Beobachtung nach auf die Täter*innen konzentrieren, wenn sie in ihrer Lehre das Thema Rechtsextremismus behandelt. Melanie Groß beschrieb, dass sie aktiv die Betroffenenperspektive stark machen muss, um aus dieser Perspektive mit ihren Studierenden die Themen zu behandeln.
Ich möchte die Gegenthese aufstellen und darüber zu reflektieren einladen, dass dies auch mit ihrer objektiven Positionierung zu tun hat. Denn auch ich referiere seit Jahren über Rechtsextremismus, und ich werde von meinen Schüler*innen nicht nach den Täter*innen ausgefragt, über Statistiken und Zahlen. Sondern sie haben während unseres Unterrichts und der direkten Auseinandersetzung mit einem Betroffenen rassistischer Gewalt auch über ihre „-Ismen“ reflektiert und sich mit Rassismus auseinandergesetzt. Mein Vorschlag ist auch hier: Unsere Namen sind nicht abzulesen, unsere Namen können wir selber aussprechen. Vielleicht ist die Zeit gekommen, partizipative Ringvorlesungen zu organisieren und Betroffene zu beteiligen, um die Perspektive von den Täter*innen systematisch auf die Perspektive der Betroffene zu lenken. So könnte sich auch der Blickwinkel der Studierenden systematisch ändern und sie lernen Opfer rechter Gewalt als reine Objekte, sondern als handlungsmächtige Subjekte zu sehen. Außerdem lernen sie, dass Migrant*innen nicht objektiviert werden können, wie es die weiß-deutsche Mehrheitsgesellschaft mitsamt ihrer Behörden tut. Somit würden sie auch in ihrer eigenen Beratungsarbeit ihre Klient*innen aktiv als Subjekte beraten.
Ein weiterer kritischer Punkt ist, dass Melanie Groß zu Recht betont, dass Betroffene nicht immer Zugang zu Beratung haben. Die Erreichbarkeit der Zielgruppe ist nicht immer gegeben. Es gibt aber auch ein anderes Problem: und zwar weiß ich von mir, dass ich etwa nicht von einer Person beraten werden wollte und möchte, die selber keine Rassismuserfahrungen gemacht hat, die eng mit Migrationserfahrungen verknüpft ist. Deshalb müssen die Beratungsinstitutionen unbedingt migrantisiert werden und es müssen gezielt Menschen mit Rassismuserfahrungen angestellt werden, damit eine Durchmischung erreicht wird, die den Betroffenengruppen auch entspricht. Die von Frau Groß besagten Qualitätsstandards der Beratungsarbeit sollten entlang einer Gegenüberdarstellung mit dem Wissen von Betroffenen überprüft, ergänzt, diskutiert, erweitert und auch kritisiert werden können, wenn der Ansatz der situationsgebunden Beratungsarbeit noch weiter effektiv und arbeitsorganisatorisch eingesetzt und erweitert werden soll. Ich sage Ihnen, um professionell zu werden, sollte die Beratungsarbeit noch gezielter Betroffene partizipieren lassen in der Wissensproduktion. Der Dreiklang von Wissen, Können und Haltung kann nur im Dialog mit dem Wissen der Betroffenen funktionieren. Sie werden ohne das Wissen von Rassismusbetroffenen keine rassistische Gewalt und ihre Dimension erfassen können, oder gar eine politische Intervention organisieren können.
Ich möchte auch nicht beraten werden von Institutionen, die auch Täter*innen beraten. Die Gefahr der seelischen, körperlichen Verletzung und die damit durch die Hintertür einschleichende Täter-Opfer-Gleichschaltung ist bedrohlich. Wir leben in einer Gesellschaft, in der es systematische Opfer-Täter-Umkehr stattfindet. Deshalb gilt es hier ein Ausschlusskriterium aufrecht zu erhalten.
Ich denke, dass die Mehrheit der Sprechenden und der Zuhörenden in den Medien und Politik und der große Teil in der Sozialen Arbeit arbeitenden Menschen auch deshalb über Täter*innen spricht, weil es für sie einfacher ist, über Täter*innen zu sprechen. Es ist viel einfacher sich mit der Vergangenheit der Täter*innen zu beschäftigen, da man dadurch die Fragen der Gegenwart nicht beantworten muss – oder man denkt, sie beantworten zu können. Dadurch ist es auch viel einfacher, die Schuld von sich abzuwehren, denn vom strukturellen Rassismus profitieren alle, die nicht vom Rassismus betroffen sind. Der strukturelle Rassismus der Gesellschaft ist ebenso wie der tödliche Rassismus des Rechtsterrors nach wie vor Rassismus.
Aus all dem stellt sich mir schließlich die Frage, und ich richte sie an den Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt, warum man für Betroffene keine offiziellen Stellen schaffen kann, in denen Betroffene Betroffenenarbeit praktizieren können. Es gibt so viele Institutionen, die an Projekten arbeiten, bei denen sich Betroffene beteiligen können, um diese zu perfektionieren. Doch sie werden immer wieder gestoppt durch eine Mauer der Bürokratie. Meist fehlen entweder irgendwelche Qualifikationen oder für diese Stelle benötigte Zertifikate, die die Betroffenen nicht besitzen. Sie müssten daher also nochmals einen neuen Bildungsweg gehen, zur Schule oder zur Uni, um sich für diese Arbeit zu qualifizieren. Dabei ist das wertvolle Wissen, das aus erlebten Erfahrungen besteht, eine sehr wertvolle Qualifikation, die leider außer Acht gelassen wird. Dieses Wissen wird in den meisten Fällen nicht ernst genommen und dadurch nicht weitergegeben. Es könnten sicher Möglichkeiten gefunden oder geschaffen werden, wie man institutionelle sowie wissenschaftliche Arbeit mit dem Wissen der Betroffenen kombiniert. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten
3. Die dringende Notwendigkeit über Rassismus und den Rechtsterrorismus aus der Perspektive der Betroffenenperspektive zu sprechen
Neben der direkten Hilfe und Stabilisierung von Opfern und Angehörigen, neben der sozialen Wiedereingliederung, neben dem Strafprozess gegen die Täter, der Anerkennung und Benennung der rechtsterroristischen Gewalt, gibt es die Dimension der Erinnerung als politischer Praxis. Die Erinnerung an das Geschehene zurück zu erkämpfen – an das Vergessene, an das Verschwiegene, an die Ursachen und die Folgen, an das Davor und das Danach. Diese Forderungen sind aktueller denn je. Es ist also auch wichtig, Orte des Sprechens über rassistische Gewalterfahrungen, über das Gedenken und eine kritische Auseinandersetzung damit zu schaffen. Erst wenn Betroffene ihre Geschichten erzählen, ihnen zugehört wird und wir uns darüber austauschen was Ungerechtigkeit ist und wie die Gerechtigkeit aussehen kann, können wir auch die Spielregeln dieser Gesellschaft und gegenwärtigen Erzählungen verändern.
Es gibt viele Erfahrungen und Geschichten, viele Verletzungen, viele Wünsche und Bedürfnisse, viele Perspektiven. Sie gilt es zu hören, aus der Vereinzelung zusammenzubringen, zu vernetzen und so Erinnerungspolitiken herauszufordern, als Kollektiv in der Vielfalt. Ich sehe es als meine Pflicht an, mit meiner Arbeit der Gedenkpolitik gerecht zu werden. Ich arbeite eng mit Betroffenen zusammen, um diesen Zustand zu verändern. Die Betroffenen sollten daher nicht erst kämpfen müssen für ein respektvolles Gedenken. Es ist die Pflicht eines Staates, einer Stadt und der Gesellschaft, Verantwortung zu tragen. Denn wir gedenken ja nicht nur, um den Familien und Betroffenen einen Gefallen zu tun: Sondern weil Rassismus ein gesamtgesellschaftliches Problem ist, welches nicht unter den Teppich gekehrt werden darf und man immer und immer wieder daran erinnern muss.
Wenn es irgendwann mal keine Schoa-Überlebende mehr gibt, müssen wir trotzdem daran erinnern. Erinnern bedeutet für mich kämpfen und natürlich die junge Generation zu sensibilisieren. Diese wichtige Arbeit, die meine Familie zuvor mit fünf solidarischen Menschen angefangen hat, führen wir nun mit mehreren Tausenden fort. Und wir werden mehr. Jeder von Ihnen wird akzeptieren und respektieren müssen, dass die Gedenkkultur ohne die Betroffenen eine Inszenierung ist.
An dieser Stelle wird es Sie wahrscheinlich wundern, wenn ich Ihnen sage, dass an dieser wichtigen Arbeit keine einzige etablierte staatliche Institution beteiligt ist, außer die vom Staat geförderten, unabhängigen Opferverbände. Im Gegenteil, die staatlichen Institutionen sehen unsere Arbeit und unser Gedenken als eine Art Respektlosigkeit gegenüber Politikern und Politikerinnen, die schon seit Jahrzehnten Gedenkpolitik ohne die Betroffenen machen. Es gibt einen sehr großen Unterschied zwischen solidarischem Gedenken und Gedenken für die Imagepolitik. Wir möchten nicht, dass irgendjemand aus unserem Leid einen Profit zieht. Wir sind die Hauptzeug*innen des Geschehenen. Wir sind die Opfer und Betroffenen. Wir lassen das nicht zu.
Unsere größte Sehnsucht ist, der Gesellschaft unsere Geschichten zu erzählen, damit wir uns von den Ketten des Schweigens befreien. Ich vermute, dass jeder und jedem hier klar geworden ist, dass Opfer und Überlebende keine Statist*innen sind, sondern die Hauptzeugen des Geschehenen. Und wir wollen sehnlicher denn andere, dass niemand sterben muss, weil sie nicht in das rechtsterroristische Weltbild der Täter passen. Wir wollen nicht sterben: weder damals noch heute, noch morgen. Wir wünschen uns dringender als wahrscheinlich Andere eine antirassistische und antifaschistische Zukunft, in der weder die AfD einen Platz hat noch andere Menschenhasser, die unser Zusammenleben vergiften.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Professionalität in der Beratung von Betroffenen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt
Symposiumsbeitrag von Professorin Dr. Melanie Groß von zebra – Zentrum für Betroffene rechter Angriffe in Schleswig-Holstein e.V.
Ich grüße Sie und euch alle ganz herzlich. Herzlichen Dank auch an die Einladenden und Organisierenden von heute. Danke auch für die nette Vorstellung und die sehr eindrucksvollen und bemerkenswerten Grußworte, die wir gehört haben, genauso wie für die Einblicke von Frau Bischoff in die Vergangenheit.
Mein Auftrag heute ist es, die Frage nach der Perspektive professioneller Beratung ins Zentrum zu rücken.
Wir haben bereits mehrfach gehört: Die verschiedensten Beratungsstellen sind aus Initiativen entstanden. Auch wir in Schleswig-Holstein, zebra, sind aus einer Initiative hervorgegangen. Und wie häufig bei Sozialer Arbeit, die aus Initiativen hervorgeht – im Grunde wie bei anderen Formen Sozialer Arbeit auch – ist Professionalität ein ständiger Begleiter, permanent in der Entwicklung und immer auch ein gewichtiges Argument, um langfristige Förderung zu sichern oder überhaupt erst zu bekommen. Das gilt auch, um das Bestehende auszubauen und zu verteidigen, etwa gegenüber politischen Angriffen, die durch Verschiebungen in Parlamenten oder Ausschüssen entstehen. Wir erleben das gerade und werden es zukünftig wohl verstärkt erleben. Deshalb liegt mein Fokus auf der Professionalitätsdebatte bzw. der Professionalisierung.
Das heutige Jubiläum ist zweischneidig. Einerseits gratuliert man normalerweise zu Jubiläen. Aber weil wir uns mit Betroffenen von rechter Gewalt beschäftigen, ist das gleichzeitig schwierig. Dennoch möchte auch ich daran erinnern, es ist sehr wertvoll, dass wir fünf Jahre diesen Verband feiern können. Dadurch konnten wir die Qualitätsstandards, ausgearbeitet mit Unterstützung des DJI und der Amadeu Antonio Stiftung, die uns für die Arbeit in den konkreten Projekten an die Hand gegeben worden sind, kontinuierlich verbessern. Wir von zebra können auch fünf Jahre als westdeutsches Projekt feiern – mit dem genannten Doppelgesicht. Wir stecken mit unseren fünf Jahren noch in den Kinderschuhen. Vielleicht sind wir inzwischen aber auch als Teenager hier vertreten, weil wir in den vergangenen Jahren relativ rasant gewachsen sind und unsere Möglichkeiten erweitert haben, also auch professionelle Beratung zur Verfügung stellen können.
Besonders zentral war bei diesen Initiativen der Betroffenenberatungsstellen – das haben wir auch im Grußwort von Herrn Aslan gehört – die Perspektive der Betroffenen endlich in den Blick zu nehmen und ihnen zur Seite zu stehen auch in der Artikulation ihrer Interessen. Diese Interessen waren zwar immer schon ausgesprochen, sind aber häufig nicht gehört oder sogar absichtlich überhört worden.
In der Sozialen Arbeit ist generell ein Schwerpunkt auf die Perspektive der Täterinnen und Täter festzustellen. Ich biete zum Beispiel seit Jahren eine Ringvorlesung zu Rechtsextremismus und Sozialer Arbeit an unter dem Fokus: ‚Was bedeuten die gesellschaftlichen Entwicklungen?‘. Immer wieder ist die erste Frage der Studierenden: ‚Wie gehen wir mit den Tätern und Täterinnen um?‘ Dieser Blickwinkel scheint den meisten Studierenden näher zu liegen. Gerade die Betroffenenberatungsstellen aber stehen dafür, diesen Blick zu wenden und ihn auf die Betroffenen zu richten und Unterstützung zu gewährleisten.
Die gemachte Unsichtbarkeit von Betroffenen liegt unter anderem auch darin begründet, dass sie nicht immer selbstverständlich einen Zugang zu den Institutionen haben, die ihnen Unterstützung und Hilfe anbieten können. In der aufsuchenden Arbeit werden Betroffene häufig erstmals auf die mögliche Unterstützung aufmerksam gemacht. Bei den Tätern und Täterinnen ist das anders. Die tauchen oft schon in der Sozialen Arbeit deutlicher auf, weil sie offensichtlich den Regelbetrieb stärker stören. Auch das könnte ein Grund sein, warum sich die Soziale Arbeit überwiegend mit den Täterinnen und Tätern beschäftigt. Das ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, nicht nur in der Sozialen Arbeit. Möglicherweise ist der Fokus auf Täterinnen und Täter auch mit einer Hoffnung verbunden: Wenn wir wissen, wer diese Taten vollzieht, wissen wir vielleicht auch, wo wir im Kampf gegen Rechts ansetzen können.
In den Betroffenenberatungen geht es uns genau gegenteilig darum, die Betroffenen nach erfahrenen Angriffen und Bedrohungen zu unterstützen, sich zu stabilisieren und ihre Rechte wahrzunehmen. Wie dieses Ziel erreicht werden kann, haben wir als Handreichung: die Qualitätsstandards für die Beratung für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Deutschland. Ich halte es für ein sehr gelungenes Papier, das am Ende auch ein Gründungspapier des Verbandes gewesen ist. Auch die Qualitätsstandards gelten seit fünf Jahren. Wir hatten damals als Initiative die Gelegenheit, sie mit zu zeichnen, obwohl wir in Schleswig-Holstein noch ganz jung waren. Neben diesen Handreichungen, die wir in diesen Qualitätsstandards haben, haben wir auch eine Professionalitätsdebatte in der gesamten Sozialen Arbeit, insbesondere zu Fragen der Beratungstätigkeit.
Man könnte jetzt ganz knapp sagen: Für eine gute Unterstützungs- und Beratungstätigkeit brauchen wir gute Fachkräfte, eine gute Ausbildung und eine gute Ausstattung. Im Detail ist es komplex, wie diese drei Punkten erreicht werden können. Gute Arbeit in Bezug auf die Qualitätsstandards haben wir dann, wenn es uns gelingt mit unserer Ausstattung auf allen genannten Ebenen aktiv zu werden: Die erste Ebene, die Mikroebene, ist, die betroffenen Personen nach einem Angriff in ihrem Suchen nach Bewältigungsstrategien zu unterstützen, an ihre Ressourcen anzuknüpfen, sie in ihrer weiteren Lebensplanung zumindest ein Stück weit zu begleiten. Und vor allen Dingen nach einer stattgefundenen Demütigung, die mit einer Entpersonalisierung einhergehen kann, Wege aufzuzeigen, ihre Handlungsfähigkeit wiederherzustellen. Dann ist da die zweite Ebene, die Mesoebene: die Selbstartikulation und die Selbstorganisation vor Ort zu unterstützen. Der Fokus liegt auch hier auf der betroffenen Person – sie entscheidet, ob sie sich vor Ort organisieren will oder nicht. Und auf der Makroebene – dazu ist auch die Veranstaltung heute sicher ein Beitrag – wollen wir die Perspektiven von Betroffenen im gesellschaftlichen Diskurs mit sichtbar machen, wollen unterstützen, dass sie sichtbar gemacht werden. Sie sollen nicht als Statist*innen am Rande verhandelt werden, sondern ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken.
Das Problem der guten Ausstattung beginnt schon bei der Niedrigschwelligkeit, also der guten Erreichbarkeit. Es müssen Fachkräfte da sein, sie müssen erreichbar sein, Zeit und Kapazitäten haben. Die Kolleginnen und Kollegen in der Beratung wählen sehr häufig die aufsuchende Arbeit, weil wir eben nicht überall kommunale Ansprechpersonen haben, sondern nur eine oder zwei im Land verteilte Beratungsstellen.
Anonymität und Vertraulichkeit sind ebenso wichtige Arbeitsprinzipien, verbunden mit Parteilichkeit, sich nicht vor die Betroffenen zu stellen, sondern an ihrer Seite zu stehen und sie bei dem zu begleiten, was sie brauchen. Unabhängig zu sein – wir haben das gerade mit den Zahlen aus den Programmen gesehen, Unabhängigkeit ist ein Begriff, der politisch gerne überdehnt wird mit der Forderung, mit der Arbeit generell unabhängig vom Staat zu sein. Das sind wir leider nicht, das ist Soziale Arbeit im Grunde nie, außer man hat einen reichen Gönner, der die Finanzierung übernimmt. Wir sind immer von öffentlichen Mitteln abhängig, die aufgrund politischer Mehrheitsverhältnisse, in Förderprogrammen gegossenen, existieren. Umso wichtiger ist es, das sehr gut im Blick zu behalten und eben auch mal – so wie heute im Grußwort der Ministerin erbeten – eine Gleichstellungs- und Integrationsministerin in Sachsen ihren Koalitionsverhandlungen für eine Regierungsbildung ohne Beteiligung rechter Parteien zu unterstützen.
Ein wichtiger Teil der Arbeit ist immer auch die Auftragsklärung. Was genau braucht die beratungssuchende Person? Das ist nicht ganz einfach, aber ein wichtiger Teil des Prozesses. Und nicht zuletzt – und das tangiert wieder die Fachkräfte – ist auch die Differenzsensibilität und/oder intersektionale Perspektive im Team wichtig, denn sie haben ein sehr breites Feld an diversen Aufgaben und an heterogenen Betroffenen. Sehr unterschiedliche Menschen kommen und suchen Unterstützung in Beratungsstellen. Das kann ein privilegierter, weißer, junger Landtagsabgeordneter sein, das kann eine Geflüchtete aus Syrien sein, die vielleicht Mutter dreier Kinder ist, oder es kann eine junge Antifa-Aktivistin im ländlichen Raum sein. Das sind ganz unterschiedliche Settings und unterschiedliche Hintergründe, deswegen ist die Alltags- und Lebensweltorientierung wichtig, denn die Berater*innen müssen sich eindenken können. Dafür braucht es auch eine Differenzsensibilität, um am Ende den Wunsch nach Empowerment möglichst gut durchführen zu können.
Die Reflexionen zum Handlungsfeld der Beratung sind neben den Reflexionen der politischen Problematiken nicht unwichtig, weil wir immer auch die Grenzen von Beratungskommunikation bedenken müssen. Unsere Beratung folgt keiner sozial-technologischen Logik von Beratung, keinem Input-Output-Prinzip, als wüsste man schon, was für die beratungssuchende Person gut ist und man ihr aufgrund dessen bestimmte Schritte vorgeben könnte, die sie zu gehen habe, und dabei davon ausgeht, dass man so zu einem vorher definierten Ziel käme. Genauso wenig machen wir therapeutische Beratung. Wenn therapeutische Beratung benötigt wird, verweisen wir auf andere Beratungsstellen. Was wir in der Sozialen Arbeit oder in pädagogischer Beratung insgesamt stattdessen machen, sind immer stellvertretende Deutungsangebote, und auch nur Angebote, die wir machen können. Die verpflichten in keiner Weise zur Übernahme. Im Gegenteil kann auch das Zurückweisen eines Deutungsangebots für die weitere biografische Entwicklung der zentrale Schlüssel zur Rückerlangung von Handlungsfähigkeit sein. Damit müssen Fachkräfte bisweilen auch umgehen können.
In der Sozialen Arbeit haben wir immer einen Dreiklang: Wissen, Können und Haltung als wichtige Handlungskompetenzen. Hiltrud von Spiegel hat ihren Auseinandersetzungen mit Professionalität in der Sozialen Arbeit verschiedene theoretische Ansätze miteinander systematisiert. Ich finde das ausgesprochen hilfreich und es hat uns bei der Entwicklung von zebra geholfen, all diese von ihr benannten Dimensionen – Wissen, Können, Haltung – in die Entwicklung dieser Beratungsstelle miteinzubeziehen. Im Bereich des Wissens ist das offensichtlich: Wir brauchen empirisches Wissen, wir brauchen theoretisches Wissen über die Situation vor Ort, über die Situation von Communitys. Wir brauchen Erklärungs- und Begründungswissen, wir müssen über die gesamtgesellschaftliche Entwicklung Bescheid wissen. Wir brauchen ein Wertewissen und ein Handlungs- und Interventionswissen. Wir müssen wissen, dass rechte Angriffe in der Regel Botschaftstaten sind, dass die Betroffenen als Repräsentantinnen und Repräsentanten einer abgewerteten Gruppe entpersonalisiert werden und im Laufe der Bewältigung von solchen Angriffen genau an diesen Schnittstellen Unterstützung brauchen, um wieder zu einer widerständigen Subjektivität zurückkommen zu können. Das heißt, wir müssen ein Wissen über Subjektivierungsprozesse und Bildungsprozesse von Betroffenen von Diskriminierung und Gewalt vorhalten. Anne Broden und Paul Mecheril haben mit dem Satz „Rassismus bildet“ darauf hingewiesen: Die permanente Konfrontation mit Abwertung, mit Ausgrenzung, mit Diskriminierung bis hin zu gewalttätigen Angriffen bildet Subjekte. Hier geht es nicht um Schulbildung, sondern um Bildung im Sinne von Persönlichkeitsentwicklung, von einem Selbstverständnis, Teil einer Gemeinschaft zu sein und in der Welt zu sein.
Neben diesem Wissen ist das Können hochgradig relevant, denn all das herstellen zu wollen, bedarf auch Handwerkszeug. Wir nennen das Handlungskompetenz. Es braucht ein methodisches Wissen über Beratungsmethoden, über Methoden der lokalen Intervention: Wie gehe ich das an? Wen spreche ich an? Was sind die sinnvollen Strategien? Dabei brauchen Berater*innen ein Selbstverständnis von einem dialogischen Verstehen im Umgang mit Betroffenen. Es muss ihnen klar sein, dass es immer eine Koproduktion ist, in der eine neue Realität oder überhaupt die Bewältigung einer Realität überhaupt erst möglich wird.
Und Beratende brauchen auch – das ist immer so ein schönes Wort – Ambiguitätstoleranz. Sprich, sie müssen gut damit umgehen können, dass Nutzer*innen von Beratungsangeboten nicht immer dasselbe Ziel verfolgen wie sie selber. Und dass ihr eigenes Ziel an der Stelle irrelevant ist, weil die betroffene Person im Zentrum steht. Dafür braucht man einen Blick für Fallverstehen, man braucht die Fähigkeit, möglicherweise geschlossene Deutungsmuster zu eröffnen oder wieder zu öffnen, um so neue Perspektiven und Handlungsoptionen zu ermöglichen. Daraus allein leiten sich schon viele verschiedene Kompetenzen ab, die Fachkräfte brauchen, um diese Beratungstätigkeit durchführen zu können, dass die Liste lang und die Komplexität hoch ist. All das, was die einzelnen brauchen, um diese Arbeit wirklich gut durchführen zu können, ist auch in den Qualitätsstandards niedergeschrieben. Und das verweist auch noch mal darauf, wie hoch notwendig es ist, zum einen, dass wir in den Hochschulen – da fühle ich mich selbst angesprochen – eine gute Ausbildung gewährleisten, zum anderen, dass es gute Weiterbildungen und Supervisionsangebote gibt. Hinzu kommt, dass es eine gute Ausstattung braucht, um so hoch komplex angeforderte Fachkräfte überhaupt halten zu können. Wenn Programme immer nur wenige Monate finanziert werden und sich dann immer wieder Kurzzeit-Folgearbeitsverträge anschließen, dann sucht sich vielleicht die ein oder andere Person irgendwann einen sicheren Job in einem anderen Arbeitsfeld.
Neben Wissen und Können ist auch die Dimension der Haltung zentral. Soziale Arbeit versteht sich selbst als Menschenrechtsprofession. Das heißt, wir orientieren uns an der Notwendigkeit der Umsetzung der Menschenrechte. Dazu brauchen wir immer auch ein hohes Maß an Selbstreflexivität. Die Selbstreflexivität der Fachkräfte ist im Beratungskontext, die ja immer in der Koproduktion im Moment geleistet wird, hochgradig wichtig: Was ist meine Geschichte mit Betroffenheit von Gewalt, mit Diskriminierungserfahrung, mit rechten Angriffen? Was sind meine Bewältigungsstrategien im Umgang mit solchen Erfahrungen? Bin ich in der Lage, meine eigenen Strategien zurückzustellen, um die der Betroffenen ins Zentrum zu rücken? Dazu gehört auch, niemals die Betroffenen zu instrumentalisieren, sondern sie stets in den Vordergrund zu stellen, sofern sie das selber wollen. Damit ist die komplette subjektive Ebene der Arbeit von Fachkräften angesprochen: Wissen, Können, Haltung.
All das ist engst verknüpft mit der Ausstattung. Die ausreichende finanzielle Ausstattung ist die Grundlage professioneller Sozialer Arbeit und professioneller Beratungsarbeit. Gleichzeitig ist die professionelle Arbeit ein sehr gutes Argument für die ausreichende finanzielle Unterstützung. In Schleswig-Holstein haben wir zumindest die Erfahrung gemacht, dass das immer zwei Seiten einer Medaille waren, um auch politisch weiter zu kommen.
Damit ist die Netzwerkarbeit angesprochen, die Beratungsstellen auch leisten müssen. Die findet häufig auf dem Nebengleis, also neben der Arbeit auf der Mikro- und Mesoebene statt. Vernetzung mit Einrichtungen der Sozialen Arbeit im Land und in der Kommune, damit die Kolleg*innen wissen, wie wir arbeiten und dass sie sich an uns wenden können, wenn sie Fälle verweisen möchten. Das gilt auch für Verbände. Regional, aber auch überregional sind Verbände extrem wichtig, um in politischen Auseinandersetzungen und in Verhandlungen mit Ländern über Mittelverwendungen eine gewichtigere Stimme zu haben. So sind wir als zebra einerseits Mitglied im VBRG, aber genauso im Paritätischen Wohlfahrtsverband Schleswig-Holstein.
Die Netzwerkarbeit mit der Politik ist bei uns ein wichtiger Arbeitspunkt, der von Beginn an großen Raum eingenommen hat. Wir müssen permanent mit der Landes- und Kommunalpolitik im Gespräch sein. Zum einen, weil auch manche in der Politik von rechten Angriffen oder Bedrohungen betroffen sind, zum anderen, weil sie über unsere Arbeit informiert werden müssen, die sie letztlich weiter unterstützen und ausbauen sollen. Inzwischen sind wir angemessen ausgestattet, wenngleich immer die Frage ist, was angemessen genau heißen soll. Wir wissen ja, dass mit Anwachsen von Personal und Beratungsstellen auch verbunden ist, dass wir stärker in die Communitys gehen, dass wir stärker bekannt werden im Land, dass wir mehr Netzwerkarbeit machen, und dann kommen auch mehr Fälle. Nicht zwingend, weil es plötzlich mehr Fälle gäbe, sondern weil sie sichtbarer werden und sich eher an die Beratungsstelle wenden. Insofern ist das mit dem Begriff der Angemessenheit zwar erstmal nachvollziehbar, aber vielleicht noch ein Punkt, bei dem man noch mal genauer gucken müsste, was er genau abbildet. Es gibt im Grunde keine Daten, die uns sagen, wieviel Beratungskapazität pro Einwohner*innen im Land oder in der Region gebraucht werden. Und ich bin mir sicher, dass wir immer wieder das Gefühl haben werden, dass die bestehenden Kapazitäten nicht ausreichen, weil das Dunkelfeld immer weiter erschlossen wird, je mehr Personal da ist.
Wir können auf jeden Fall positiv festhalten: Mit den fünf Jahren Bundesprogramm Demokratie leben! haben wir uns 2013 als Initiative und 2014 als Verein gegründet. Wir sind wie viele andere Beratungsstellen mit Minijobs und Honoraren und sehr viel ehrenamtlicher Arbeit gestartet und hatten damals ein Budget von 26.000 Euro. Inzwischen ist dieses Budget auf 445.000 Euro jährlich angewachsen, die wir voll ausschöpfen. Und ich glaube, das ist nicht das Ende der Fahnenstange, denn es zeigt sich immer wieder, dass wir größere Bedarfe haben.
Zusammenfassend bleibt zu sagen: Ausstattung und Professionalität gehören bundesweit zusammen. Die AfD oder das Erstarken der AfD wird immer stärker auf Mittelentscheidungen Einfluss nehmen. Umso wichtiger ist es, dass wir zeigen, wie gut und wichtig die Arbeit ist, die wir machen. Dazu gehört neben der angemessenen Ausstattung für die Beratungsstellen auch eine gesicherte Ausstattung eines Bundesverbandes. Herzlichen Dank.
Zwei Jahrzehnte Opferberatung im Fokus wissenschaftlicher Begleitforschung
Vor knapp zwanzig Jahren gründeten eine Handvoll in antirassistischen und antifaschistischen Zusammenhängen engagierte Menschen in Brandenburg den Verein Opferperspektive e.V. als bundesweit erste und lange Zeit ehrenamtliche Beratungsstelle für Betroffene rechter Gewalt. Heute finden Angegriffene in den meisten Bundesländern Unterstützung bei unabhängigen und professionellen, fachspezifische Beratungsstellen. In ihrem Beitrag zum VBRG-Symposium beschreibt die Soziologin Dr. Ursula Bischoff wie mit Hilfe von des auf 5 Millionen Euro begrenzten Bundesprogramms CIVITAS Anfang der 2000er Jahre zunächst in Ostdeutschland und Berlin unabhängige Opferberatungsstellen aufgebaut werden konnten und dann durch einen umfassenden Erfahrungs- und Wissenstransfers sowie eine finanziellen Aufstockung der Bundesprogramme vor knapp zehn Jahren auch in den ersten westdeutschen Flächenländern fachspezifische Beratungsstellen entstanden.
Der Aufbau von Strukturen der Opferberatung und die Bundesprogramme gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus.
von Dr. Ursula Bischoff, Deutsches Jugendinstitut Halle
Der Tagungsgrund „20 Jahre Opferberatung“ impliziert zunächst einmal, den Blick zurückzuwerfen auf die ersten 20 Jahre, um das bisher erreichte beim Aufbau von Strukturen, den Inhalt meines kurzen Beitrags, würdigen zu können.
Was den bisherigen Strukturaufbau betrifft, so lässt sich ein eher zäher Prozess von der Gründung erster Initiativen zur Unterstützung von Betroffenen rechter Gewalt Mitte der 1990er Jahre [1] bis zur Etablierung eines (mehr oder weniger flächendeckenden) professionellen Beratungsangebotes im (gesamten) Bundesgebiet feststellen.
Einen nicht unwesentlichen Beitrag beim Aufbau von Strukturen haben die Bundesprogramme gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus geleistet, die seit dem Jahr 2001 durch des BMFSFJ aufgelegt wurden. Seit 2001 werden die Beratungsangebote in diesen Programmen der Bundesregierung wissenschaftlich begleitet (Uni Bielefeld, ISS/Camino), seit 2011 (dem Bundesprogramm TFKS) erfolgt die wissenschaftliche Begleitung der BNW/OB im Bundesmaßstab durch das DJI.
Blickt man noch einmal zurück auf das erste Bundesprogramm Civitas, dann kommt diesem ein doppeltes Verdienst zu: nämlich den Anstoß für ein Beratungsangebot für Opfer rechter Gewalt in allen neuen Bundesländern [2] sowie Berlin gegeben zu haben und dass dieses Beratungsangebot zivilgesellschaftlich getragen wurde.
Bei den politisch Verantwortlichen war offenbar Anfang der 2000er Jahre die Einsicht gereift, dass die Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus als einem komplexen gesamtgesellschaftlichen Problem nicht mehr nur durch eine zentral agierende (staatliche) Instanz erfolgen kann [3].
Waren bis Ende der 1990er Jahre der Staat und die Soziale Arbeit die vorrangig Zuständigen im (zumeist repressiven oder „kurativen“) „Kampf gegen Rechts“, wurde nunmehr vonseiten des Staates und von den bis dahin gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit Aktiven (v.a. aus der Asyl- und Menschenrechtsarbeit) stärker an eine breite Zivilgesellschaft appelliert, um eine lebendige „demokratische Gegenkultur“ zu entwickeln [4].
Nach dem Auslaufen von Civitas war durch die Bundesebene zunächst einmal nicht beabsichtigt worden, die Beratungsangebote weiter zu unterstützen. Erst nach zivilgesellschaftlichen Protesten und angesichts der Entwicklungen im rechtsextremen Spektrum legte das BMFSFJ im Jahr 2007 das Programm „kompetent. für Demokratie“ auf. Das zentrale Verdienst dieses Bundesprogramms bestand nunmehr in der Übertragung der Beratungsangebote auf alle anderen Bundesländer. Dies jedoch mit einem deutlich geringeren Finanzbudget (in Civitas 9 Mio. für 6 BL, in kompetent. 5 Mio. für 16 BL).
Eine Fortführung der in den ostdeutschen Bundesländern etablierten Grundinfrastruktur des Beratungsangebotes im gleichen Umfang war beispielsweise nur möglich, weil deren Finanzierung ab dem Jahr 2008 zu einem nicht unerheblichen Teil durch Landesprogramme bzw. aus den Landeshaushalten übernommen worden war [5].
Dagegen war der Aufbau von zwei Beratungsangeboten (MB und OB) auf Basis des geringen finanziellen Umfangs der Bundesförderung und zugleich fehlender Landesfinanzierung in den westdeutschen Bundesländern nicht möglich. Die Verantwortlichen auf der staatlichen Koordinierungsebene entschieden sich deshalb (in einem ersten Schritt) zum Aufbau der Mobilen Beratung.
Auch in der Laufzeit des Bundesprogramms TFKS gab es in Hinblick auf eine Etablierung des OB-Angebotes in den westdeutschen Bundesländern kaum eine Fortentwicklung, auch wenn nach 2011 Bewegung ins Feld kam. Erprobt wurden jedoch im Unterschied zu den „ostdeutschen“ Bratungsangeboten drei weitere Modelle, die den verfügbaren finanziellen Ressourcen und Konzepten geschuldet waren.
Das Modell Anbindung an Strukturen außerhalb bestehender Opferhilfeangebote: geschaffen wurden anteilige Strukturstellen bzw. eine Kombination aus Teilzeitbeschäftigung und Honorarkräften, Berater*innen, die nicht originär aus der Opferarbeit kamen [6], sondern bspw. aus der politischen Bildungsarbeit/Streetwork/Migrantenarbeit, wurden für die professionelle Beratung von Opfern rechter Gewalt geschult, Fazit: Sicherstellung einer punktuellen Grundversorgung von Betroffenen, nicht alle Arbeitsaufgaben konnten erledigt/Standards eingehalten werden
Wenn man ein „Team zur Verfügung hat, das kontinuierlich arbeiten kann … das Angebot dann auch nach außen tragen kann oder Büroräumlichkeit, die Möglichkeit Erstberatungen immer zu zweit durchzuführen, geschlechterparitätisch u. ä., das sind natürlich alles, sag ich mal, Wunschvorstellungen, von denen wir aber jetzt noch meilenweit entfernt sind mit unserer Struktur der freiberuflichen Mitarbeiter bei Bedarf. Also da klaffen natürlich Welten, also die Ausstattung, die ist auf ‚m unteren Level im Moment“ (DJI, Interview 2012)
Die Aufgabenerweiterung in Opferhilfeeinrichtungen als umstrittenstes Modell: dabei sollten bestehende, auch ehrenamtlich getragene, Opferhilfestrukturen (Opferhilfe, ado, AWO, Weißer Ring) und das dort vorhandene Personal für die Beratung gewonnen und qualifiziert werden, strittige Punkte waren vor allem die pro-aktive und aufsuchende Arbeit, Infrage gestellt wurde die lokale Intervention mit der eine breitere gesellschaftliche Verankerung der Betroffenenarbeit und ein Diskurs über rechte Gewalt im Gemeinwesen erreicht werden sollte, somit blieb die Frage offen, was in Gemeinden passiert, in denen es gehäuft zu tätlichen Übergriffen kommt und eine Lokale Intervention zur Stärkung der Betroffenen bzw. Betroffenengruppen führen könnte.
In unterschiedlichen Interviews wurde auf die Problematik dieser Angebote eingegangen:
„Mal abgesehen von der Opferberatung, die nochmal ein ganz eigenes Feld darstellt. Und so glaube ich auch nicht geleistet wird, auch nicht vom Weißen Ring und sozusagen da auch nochmal ein besonderes Anforderungsprofil stellt, weil sie eben auch diesen Gemeinwesenbezug im Grunde haben, neben den spezifischen Situationen, in denen sich Opfer rassistischer Gewalt befinden.“ (DJI, Interview 2010)
„Ja, der Unterschied ist ganz klar inhaltlich, der Bezug zum Rechtsextremismus einfach, die Kenntnis, die Fachkenntnis. Also die Opferberatung „Weißer Ring“ oder so, das ist schön und gut, die können mit Sicherheit sagen, wie das ist, bedroht zu werden und alles, also die sind dafür ausgebildet. Aber die rechtsextreme Szene zu kennen, glaube ich, ist sehr wichtig. Die Kombination.“ (Interview 2010)
„Und natürlich das spezifische Problemfeld. Also das Problemfeld, dass es sich mit einer politischen Gemengelage auseinandersetzen muss, (…) besonderen emotionalen Lagen rund um das Thema Rechtsextremismus, also von Scham, von Leugnung bis hin zu Überreaktionen, zum Teil wahnsinniger öffentlicher Aufmerksamkeit.“ (Interview 2010)
Und schließlich das Modell Opferberatung als Teil der Mobilen Beratung: die MB sollten einen Teil der Aufgaben übernehmen und ansonsten weiter verweisen an Opferberatungseinrichtungen bzw. sich selbst weiter qualifizieren zum OB, Problem: Überschneidung unterschiedlicher Aufgaben, gegensätzliche Interessen gleichermaßen vertreten.
„Das wird jetzt eventuell mit diesem letzten neuen Fall sozusagen ein Problem werden. (…) Weil da geht es konkret eben um eine bewaffnete Auseinandersetzung auf dem [Nennung Ort], unter den Augen der Polizei mit einem völligen Versagen des Polizeiapparates verbunden, wo wir in der Situation wären normalerweise, als Opferberatung, sehr viel offensiver mit der ganzen Situation umgehen zu müssen. (…) Also mein Gefühl wäre, das müsste man richtig groß aufhängen, wenn man eine Opferberatungsstelle wäre. Aber als Mobile Beratung können wir uns das gar nicht leisten. Also wenn ich da mit der Polizei so reden würde, wie ich denke, wie man reden müsste in diesem Fall, dann könnten wir das für andere Sachen erst einmal wirklich streichen.“ (Interview 2012)
All diese Versuche scheiterten an der Realität, denn die Angebote wurden kaum wahrgenommen, auch nicht in Bundesländern mit einer hohen Betroffenenanzahl. In den Ländern wurde dies dann so interpretiert: da diese Angebote nicht angenommen wurden, scheine es ja keinen Bedarf zu geben, so dass auch ein spezifisches Angebot nicht zu rechtfertigen wäre. „Vergessen“ bzw. außeracht gelassen wurden dabei immer wieder, die schon zum damaligen Zeitpunkt vorliegenden Erkenntnisse über die spezifischen Betroffenen(gruppen) rechter Gewalt, deren spezifischer Lebenssituation bzw. soziale Lage und Erfahrungen mit staatlicher Willkür und Gewalt.
„Also das ist so ein wechselseitiges Verhältnis, der Blick für solche Opfer [rechter Gewalt] ist in diesen Beratungsstellen nicht da, gleichzeitig tauchen die Opfer auch da nicht auf. So dass quasi, wenn niemand auftaucht, gibt es keinen Grund quasi dieses Feld auszubauen. Es kommt aber auch keiner, weil die Opfer ja wissen, dass sie ja da eigentlich keine Hilfe bekommen.“, (Interview 2010)
Der Aufbau vergleichbarer Beratungsstrukturen in den westdeutschen Bundesländern wurde zwischen 2008 und 2014 v.a. deshalb von diversen Rückschlägen geprägt, weil die Bundesländer dafür keine oder nur in geringem Umfang Mittel aus dem Bundesprogramm, geschweige denn Landesmittel, zur Verfügung stellten. Teilweise stieß allerdings auch – wie oben dargestellt – die von Berater*innen geforderte Übertragung der vorhandenen Standards auf Ablehnung, insbesondere die pro-aktive, aufsuchende Arbeit und die Ansiedlung bei einem zivilgesellschaftlichen Träger.
Auch durch die Selbstenttarnung [7] des NSU im Jahr 2011 wurde lediglich ein „Strohfeuer“ ausgelöst, denn aus den eilig einberufenen Zusammenkünften auf der Bundes-/Landesebene oder den einmalig zur Verfügung gestellten finanziellen Mitteln entstand nichts Nachhaltiges [8]. Trotz des Wissens um die NSU-Morde und das damit sichtbar gewordene Potenzial an rechter Gewalt und bundesweiter Vernetzung engagierte sich die Politik in diesen Bundesländern nicht intensiver für die Belange von Opfern rechter Gewalttaten. Abzulesen war das u.a. darin, dass sich in den meisten westdeutschen Ländern die Bemühungen um die Einrichtung eines spezialisierten Beratungsangebotes – Vorsichtig gesprochen – in Grenzen hielt. Insbesondere das Argument, dies sei ein ostdeutsches Problem, hielt sich hartnäckig.
„Aber, sage ich mal, das Bedürfnis oder die Nachfrage nach Opferberatung war in Einzelfällen da, aber jetzt auch nicht so, dass es rechtfertigen würde, dass wir das jetzt als Zweig aufmachen würden.“ (Interview 2010 [9])
Lediglich in NRW wurde der tatsächlich bestehenden Situation Rechnung getragen, dass rechte Gewalt nicht auf Ostdeutschland beschränkt ist (und von jeher auch nicht nur von Ostdeutschland ausging), sondern auch in westdeutschen Regionen Angriffe organisierter rechter Gruppen bzw. von rechtsextremen Einzeltätern passieren, weiter zunehmen und auch dort ein Klima der Angst verbreiteten [10]. Dort wurden zwei Beratungsstellen eingerichtet, die das ostdeutsche Modell einer spezialisierten Beratung übernahmen.

Opferberatungen in den Bundesländern: Stand 2014
Auch am Ende von TFKS mussten wir als wB somit konstatieren, dass den von rechter Gewalt Betroffenen nach wie vor nicht in allen Teilen Deutschlands ein entsprechendes Unterstützungsangebot zur Verfügung stand. Und dies in einer Situation, in der jene Stimmen lauter wurden, die eine Abschottung verlangten und gegen Zuwanderung, selbst aus Kriegs- und Krisengebieten, mobilisierten.
Zudem hatten Landeskoordinator/innen bereits im Jahr 2012 darauf hingewiesen, dass die Diskussion um die NSU-Mordserie und die in den Ländern ergriffenen Maßnahmen nicht dazu geführt hatten, dass sich rechtsextremistische oder rechtsaffine Personen und Gruppierungen im Rückzug befänden. Eher das Gegenteil wurde beobachtet, nämlich eine Zunahme an rassistischen Übergriffe [11].
Einige Entwicklungen, die sich bereits in Einstellungsumfragen angedeutet hatten [12], entäußerten sich ab 2014, spätestens seit den dramatischen Ereignissen im Herbst 2015 auf der Verhaltensebene (radikal) bspw. in der HoGeSa – Aktionsgruppe, den „Gida“- Bewegungen, „Nein zum Heim“ – Initiativen oder auch dem deutlichen Rechtsruck in der AfD. Damit korrespondierend hatte die Islamfeindlichkeit in Teilen der Bevölkerung, anders als andere GMF-Symptome, insbesondere in strukturschwachen Regionen (meist ohne Muslime) bereits vor 2015 deutlich zugenommen [13].
In dieser aufgeladenen Stimmung nahm das Bundesprogramm „Demokratie leben!“ 2015 die Arbeit auf. In den Leitlinien des Programms wurde die Ausgestaltung des OB-Angebotes festgeschrieben und die Bundesländer wurden erstmals verpflichtet, nicht zuletzt aufgrund unserer Empfehlungen, für die OB zwingend ein Budget aufzuwenden (positiv). Der Wermutstropfen daran war jedoch, dass dieses zwingend festgeschriebene Mindest-Budget mit 50.000 Euro deutlich zu knapp bemessen war. Dennoch kommt dem Bundesprogramm das Verdienst einer Impulsgebung zu, denn nun stellten auch weitere westdeutsche Bundesländer eine Finanzierung aus den Landeshaushalten zur Verfügung.

Opferberatungen in den Bundesländern: Stand 2019
Dass diese Verpflichtung der Bundesländer dennoch gerade richtig kam bzw. überfällig war, zeigen die gesellschaftlichen Entwicklungen seit Ende 2015 im Land:
Sorgen machte bspw. im Jahr 2016 die sich festigende Bereitschaft in verschiedenen Milieus, rechtsextreme und vor allem rassistische „Wahnideen“ in Straftaten umzusetzen – mit der Faust oder auch mit der Brandflasche. Ausreichend bekannt sind die rasant zunehmenden Übergriffe auf Geflüchtete und deren Unterkünfte sowie auch deren Helfer*innen.
Zudem agierten bei diesen Angriffen zunehmend Täter, die zuvor nicht als Extremisten bekannt waren. Auf „rund drei Viertel“ der ermittelten Verdächtigen traf dies laut BKA zu [14]. Besonders besorgniserregend wurde eingeschätzt, dass nicht nur die Zahl der Rechtsextremisten ansteigt, sondern eben auch immer mehr scheinbar „unauffällige“ Personen rassistische, islamfeindliche und weitere problematische „rechte“ Ansichten vertreten und diese auch gewalttätig umsetzen. [15]
Derartige Entwicklungen lassen leider erwarten, dass den Opferberatungs-Stellen die Arbeit nicht ausgehen wird. Eine Arbeit, für die sie weiter Unterstützung auch von der Bundesebene aus benötigen. In DL! wurde dem nicht nur durch die genannte „Verpflichtung“ der Bundesländer entsprochen, sondern auch dadurch, dass der Bund die Entwicklung von feldeigenen Unterstützungsstrukturen finanzierte. So wird seit 2015 auch ein Bundesverband der Opferberater*innen unterstützt, dessen Gäste wir heute sind und der den Beraterinnen und Beratern vor Ort wertvolle Dienste in Ihrer wichtigen Arbeit leistet: sei es im Fachaustausch, in der Qualifizierung und Qualitätssicherung oder als Lobbyorganisation und damit Anwalt/Anwältin der von rechter und rassistischer Gewalt Betroffenen auf der Bundesebene.
Inzwischen ist DL! am Ende seiner 1. Förderphase angekommen. Viel ist erreicht, manches bleibt weiter in der Klärung.
Wir haben bei der Opferberatung, (…), eine kleine Krise überstanden, wo es kurz davorstand, dass wir es vielleicht aufgeben müssen. Und haben jetzt da eine neue Situation aufgestellt. Und mit dieser Neuauflage betreuen wir das auch engmaschiger (…). Aber weil die Opferberatung noch gar nicht richtig in Gange ist, der Aufbau zwischendurch gestoppt hat, haben wir noch gar nicht so viele Fallberatungen gehabt, (…). Und das ist sozusagen überhaupt jetzt erst im Entstehungsprozess, aber es gibt jetzt erstmal ein Konzept. (Interview, 2019)
Also, was Beratungsstrukturen betrifft, würde es mich durchaus sehr freuen, wenn die Opferberatung so wahrgenommen wird, dass die quasi der Hauptansprechpartner ist. Wobei, das liegt auch an der Ausstattung unserer Opferberatung, dass die das wahrscheinlich, also da ist keine Zeit für Öffentlichkeitsarbeit, da ist keine Zeit, vor Ort zu gehen und sich vorzustellen. Die haben 125.000 Euro für ganz [Bundesland], zwei Teilzeitstellen. (Interview, 2019)
Wir haben sie zentral im Landesprogramm verankert, was uns auch wichtig war, auch in der Fortschreibung des Landesprogramms, (…), um einfach in den zukünftigen Jahren auch die Opferberatung zu sichern. (Interview, 2019)
So sind wir nun heute, vor allem dank der beharrlichen Arbeit der Berater*innen, aber auch des Vorhandenseins der Bundesprogramme, zwar an einem Punkt angelangt, an welchem es in allen BL ein Angebot gibt, das sich vielfach am „ostdeutschen“ Modell orientiert. Zugleich sind allerdings einige dieser Angebote aufgrund der finanziellen Ausstattung und organisatorischen Strukturen fragil und ihre Weiterführung ist mit Unsicherheiten behaftet.
Somit können wir uns auf dem Erreichten (noch) nicht ausruhen, auch weil ein Blick in die gesellschaftliche Zukunft einige Herausforderungen erwarten lässt.
An dieser Stelle möchte ich gerne enden und allen Berater*innen bzw. den vor Ort engagierten Akteur*innen weiterhin viel Erfolg und Kraft wünschen.
Dr. Ursula Bischoff ist seit 2003 Referentin im Deutschen Jugendinstitut e.V. in Halle, Fachgruppe »Politische Sozialisation und Demokratieförderung«, und arbeitet aktuell in der Programmevaluation des Bundesprogramms »Demokratie leben!«. Die Soziologin promovierte über »Räumliche und Soziale Mobilität« und forscht zu Migration, Bürgerbeteiligung und Regionalentwicklung sowie zur Evaluation von (Präventions-)Programmen gegen Rechtsextremismus und für Demokratie.
[1] In den 1980er Jahren außerdem antirassistisches Telefon Berlin.
[2] Ausnahme BRB mit dem Landesprogramm Tolerantes Brandenburg, 1998
[3] vgl. BT-Drs. 14/9519
[4] verbunden mit einer Kritik an der ausschließlichen Täterarbeit (AgAG)
[5] 1998 BRB, in Civitas: BE, SN, MV; usw. …
[6] In einem BL wurde die Arbeit mit Opfern rechter Gewalt an die Diskriminierungsberatung gekoppelt. Das Angebot wurde bisher stärker von Diskriminierungs- als von Gewaltopfern genutzt, was u. U. darauf zurückzuführen ist, dass diese Beratungsstelle in einem Ministerium angesiedelt ist.
[7] Selbstmord von zwei Tätern des NSU-(Kern)Netzwerkes, Auffliegen der dritten Person
[8] PE-Bericht 2012, S.130
[9] Bundesland mit durchschnittlich 60 Übergriffen/Jahr seit 2001
[10] vgl. Luzar et al. 2012; Bericht 2012
[11] PE-Bericht 2012, S. 107, auch Schellenberger: die Gewaltbereitschaft des rechten Spektrums hat seit der NSU-Enttarnung nicht (wie erhofft) ab-, sondern sogar zugenommen (Schellenberger, 2014, FES-Heft, S. 12).
[12] In Ostdeutschland hatte rechtsextremes Gedankengut einer Studie zufolge zwischen 2006 und 2012 weiter zugenommen (von 6,6 auf 15,8 Prozent, Die Mitte im Umbruch. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2012 der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES)). Als besonders dramatisch bezeichneten die Autoren der Studie, dass in Ostdeutschland inzwischen eine neue Generation von Rechtsextremisten entstanden war. Anders als bei früheren Befragungen wiesen hier 14- bis 30-Jährige hinsichtlich ihrer Zustimmung zu einer rechtsautoritären Diktatur, zu Sozialdarwinismus oder zur Verharmlosung des Nationalsozialismus höhere Werte auf als über 60-Jährige (vgl. http://www.spiegel.de/politik/deutschland/rechtsextremismus-in-ostdeutschland-nimmt-zu-a-866712.html, abgerufen am 17.4.2018).
[13] Schellenberger, 2014, FES-Heft S. 15
[14] so BKA-Chef Holger Münch im September 2016
[15] http://www.tagesspiegel.de/politik/rechtsextremismus-in-deutschland-rechte-szene-waechst-und-wird-militanter/19299078.html (Abruf 19.01.2018)