Rassistische Verhältnisse: Ausblicke – Tendenzen – Positionen
Jubiläen sind ein Anlass zum Feiern. Normalerweise. ReachOut – eine Berliner Initiative für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt – wurde im Jahre 2001 gegründet, besteht also nunmehr seit fast 10 Jahren. Es ist großartig, dass es diese Initiative gibt. Sie ist wichtig, mehr noch: Sie ist unverzichtbar. Und genau das ist der Grund, warum ich das Gefühl habe: Dieses Jubiläum ist KEIN Grund zum Feiern. Denn eines ist klar: Gäbe es keine rechte, keine rassistische, keine antisemitische Gewalt, dann bräuchte es ReachOut gar nicht. DAS wäre ein Grund zum Feiern. Doch solang es diese Gewalt gibt, solange wird es auch Opfer geben. Und solang es Opfer gibt, solange muss es ReachOut geben.
ReachOut ist nicht zuletzt deshalb so bedeutsam, weil es die Opfer in den Mittelpunkt stellt und konsequent deren Perspektive einnimmt. Und gerade dies hat, wie Sabine Seyb in ihrem Beitrag »ReachOut: Die Opfer unterstützen und beraten« eindrücklich klar macht, eine gesellschaftspolitische Dimension. Sie schreibt: »Die Perspektive der Betroffenen einzunehmen, bedeutet eben auch, für gleiche Chancen und Rechte aller hier lebenden Menschen einzutreten und die Konflikte, die sich daraus ergeben, auszutragen.«
Die bei ReachOut engagierten Menschen hören zu, sie schenken den Schilderungen der Opfer Glauben. Dies ist leider keineswegs selbstverständlich, sondern viel zu oft die Ausnahme. Durch das Zuhören und Glauben eines Gegenübers wird es den Opfern, die nach erlebten Gewaltattacken häufig unter posttraumatischen Belastungsstörungen leiden, überhaupt erst möglich, wieder Vertrauen zu Menschen außerhalb ihres unmittelbaren Familien und Freundeskreises aufzubauen. In diesem Zusammenhang sei hingewiesen auf die wichtige Arbeit der »Psychologischen Beratung für Opfer rechtsextremer, rassistischer und antisemitischer Gewalt«, die Eben Louw in dieser Broschüre kurz vorstellt mit seinem Beitrag »Mutig ist nicht, wer keine Angst kennt. Mutig ist, wer die Angst kennt und sie überwindet.« Und die Beiträge von Maria João Portugal schildern anschaulich und bewegend die Ängste einzelner Menschen während und nach rassistischen Übergriffen und Gewaltattacken. Eine weitere Besonderheit von ReachOut ist, dass die Initiative sich nicht – gleichsam »passiv« – als reine Anlaufstelle versteht, sondern von sich aus aktiv auf Opfer zugeht, den Kontakt also selbst sucht. Dies wiederum ist nur möglich aufgrund einer weiteren Besonderheit: ReachOut recherchiert Medienberichte über Gewalttaten und führt eine entsprechende Chronik, die als insoweit hilfreiche Datenbasis fungiert.
Diese Broschüre enthält Beiträge von Menschen, die sich weder mit der Gewalt noch mit der Hilflosigkeit der Opfer abfinden wollen. Deshalb engagieren sie sich: gegen Gewalt und für die Opfer. Ein Ausdruck der Entschlossenheit und der Vielfältigkeit, aber auch der Notwendigkeit dieses Engagements ist die Breite und Tiefe der Beiträge. Diese Notwendigkeit hängt mit dem unerfreulichen Umstand zusammen, dass rechtsextreme Ansichten in Deutschland zunehmend »salonfähiger« werden. Wer dies nicht wahrhaben will, dem seien nur Inhalt, Verlauf und Umfang der Sarrazin Debatte in Erinnerung gerufen.
Wichtig und aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist insbesondere der Beitrag »›Kultur‹ statt ›Rasse‹ – das Phänomen des Antimuslimischen Rassismus« von Yasemin Shooman. Die Autorin entkräftet auf überzeugende Weise das von Sarrazin selbst oder auch von Necla Kelek und anderen vorgebrachte Argument, es sei absurd, Sarrazins Islamkritik mit Rassismus gleichzusetzen, da der Islam keine Rasse, sondern eine Kultur und Religion sei: Yasemin weist darauf hin, dass »es überhaupt keine genetisch unterscheidbaren menschlichen Rassen gibt«; vielmehr handele es sich bei ›Rassen‹ um soziale und politische Konstrukte – »rassistische Denkweisen, die Menschen kategorisieren und (…) mit unterschiedlichen Wertungen versehen (…seien) keineswegs verschwunden.«
Verwiesen sei zudem auf die Beiträge »Spielen(d) ernst nehmen: Zum Eliten Rassismus und dessen Funktion« von Sebastian Friedrich sowie »`All´ das geschieht fast unbemerkt. Friedlich´ – Institutioneller Rassismus« von Biplab Basu: Beide thematisieren das Problem des institutionellen Rassismus. Zwar werden Residenzpflicht, Asyl und Flüchtlingsheime, Abschiebehaft, Praktiken in Ausländerbehörden oder auch von Wohnungsunternehmen nicht ausführlich thematisiert. Aber Biplab Basu geht ganz konkret auf den Rassismus in Medien, Polizei und Strafanstalten ein. In diesem Zusammenhang sei auch auf die wichtige Kampagne für Opfer rassistisch motivierter Polizeigewalt – KOP – hingewiesen, die in dieser Broschüre vorgestellt wird. Sebastian Friedrich vertritt die interessante These einer Art Instrumentalisierung des Themas »Angst« durch Medien und Politik; gemeint ist hier allerdings nicht die reale Angst der Opfer von rechter, rassistischer oder antisemitischer Gewalt. Sondern gemeint ist jene – vermeintliche oder tatsächliche – diffuse Angst der »weißen Mehrheitsbevölkerung « vor Überfremdung: Hier werde, so Sebastian Friedrich, »Rassismus als Folge von Angst verharmlost«, zudem würden »Täter Opfer Strukturen umgekehrt.« Etwaiger Rassismus der Eliten selbst hingegen – hier Medien und Politik – werde von diesen gar nicht erst thematisiert.
Einen weiteren interessanten Beitrag liefert Koray Yilmaz Günay mit »Frauen und Homosexuelle im Clash of Civilizations. Mit Rassismus gegen Sexismus und Homophobie?« Korays Kernpunkt: Rassismus sollte nicht – wie viel zu oft und viel zu leichtfertig anzutreffen – ausschließlich der politischen Rechten oder gar den Rechtsextremen zugeschrieben werden. Als Erklärung müssten dann in aller Regel »eine mangelhafte ›Aufklärung‹ über kulturelle Verschiedenheit oder negative Erfahrungen von Einzelnen herhalten.« Bei einer derart verkürzten Sichtweise jedoch blieben strukturelle Ebenen außer acht – auch Verbindungen zu Frauen, Lesben und Schwulenfeindlichkeit, die dann häufig gleichsam unter Schuldzuweisungen auch und insbesondere mit der muslimischen Kultur und Gesellschaft assoziiert würden. Worauf es statt derlei vereinfachter (Denk)Muster ankomme, daran lässt Koray keinen Zweifel: »Wir müssen verstehen, wann, wie und vor allem zu welchem Zweck Frauen, Schwulen und Lesbenfeindlichkeit zu Argumenten in einem rassistischen Diskurs werden. Die Überwindung von Sexismus und Homophobie kann sinnvoll nur als antirassistischer Kampf geführt werden.«
Leider kann ich hier nicht auf jeden einzelnen Beitrag gesondert eingehen. Hervorgehoben aber seien auf jeden Fall noch jene Beiträge, die Betroffenen ganz konkrete Hilfestellungen geben können, erste Orientierungen – einen
Art Leitfaden sozusagen: Sanchita Basu etwa liefert Eltern eine Vielzahl möglicher Hinweise, die darauf deuten können, dass ihr Kind in der Schule oder anderswo rassistischem Mobbing ausgesetzt ist; die Dokumentation der Gespräche mit den Neuköllner Stadtteilmüttern gewährt wichtige Einblicke in »rassistische Alltagserfahrungen« und Ansatzpunkte zu deren Bewältigung und künftiger Vermeidung. Jeder einzelne Beitrag ist wichtig und steuert einen unverzichtbaren Teil bei zu einem großen Puzzle ambivalenter gesellschaftlicher Realität: Menschlichkeit im Unmenschlichen, Engagement im Gleichgültigem, Zuwendung im Abgewandten, Wärme im Kalten.
Insgesamt wird deutlich: Gewalt fällt nicht vom Himmel. Dies gilt für jede Art von Gewalt – also auch für rechte, rassistische und antisemitische Gewalt. Gewalt ist immer zumindest Ausdruck und Erscheinungsform – wenn nicht gar im engeren Sinne Folge und Ergebnis – gesellschaftlicher Rahmenbedingungen, die sie möglich machen. Rahmenbedingungen und das Verhalten von Menschen wiederum (das, wie wir nur allzu gut wissen, eben auch unmenschlich sein kann …) beeinflussen sich wechselseitig: Rahmenbedingungen schaffen Voraussetzungen bzw. Anreize für das Verhalten von Menschen; Menschen wiederum können aber auch – eben durch ihr Verhalten – Rahmenbedingungen durchaus ändern. Das jedenfalls leuchtet spätestens dann ein, wenn man sich klar macht, was sich hinter dem abstrakten Begriff »gesellschaftliche Rahmenbedingungen « eigentlich konkret verbirgt: Es geht um nicht mehr – aber auch nicht um weniger – als um geschriebenes Recht, also um Gesetze, Verordnungen, Durchführungsbestimmungen etc., aber eben auch um ungeschriebene Regeln, also kulturell geprägte Wertvorstellungen, Sitten, Gebräuche und Gewohnheiten.
Kurzum: Gesellschaftliche Rahmenbedingungen umfassen formelle und informelle Institutionen, die gewissermaßen den Rahmen bzw. Aktionsraum für das Verhalten von Menschen definieren. Hinzu kommen natürlich noch Institutionen im korporativen Sinne, also Organisationen wie Ministerien, Behörden usw. In einem Satz: Solange es gesellschaftliche Rahmenbedingungen gibt, die rechte, rassistische und antisemitische Gewalt möglich machen, solange es Menschen gibt, die menschenverachtende Ansichten vertreten, die menschenfeindliche Überzeugungen und unmenschliche »Wertvorstellungen« haben, solange braucht es andere Menschen mit anderen Ansichten, Überzeugungen und Wertvorstellungen, die dem entgegentreten. Menschen wie jene eben, die bei ReachOut aktiv sind. Weiter so!
Delal Atmaca
Berlin, im Dezember 2010
Dr. Delal Atmaca ist promovierte Wirtschaftswissenschaftlerin. Sie ist als Lehrbeauftragte an der Martin Luther Universität Halle/ Wittenberg tätig und Diversity Trainerin.