Stellungnahme des VBRG
Stellungnahme zum „Referentenentwurf eines Gesetzes zur Überarbeitung des Sanktionenrechts – Ersatzfreiheitsstrafe, Strafzumessung, Auflagen und Weisungen sowie Unterbringung in einer Entziehungsanstalt“ aus dem Bundesministerium für Justiz vom 19. Juli 2022
Dresden/Berlin, den 24. August 2022
Die im VBRG e.V. zusammengeschlossenen Gewaltopferberatungsstellen in 14 Bundesländern begrüßen die Initiative für eine Überarbeitung des Sanktionenrechts sehr. Seit zwei Jahrzehnten unterstützen die unabhängigen Opferberatungsstellen mit langjähriger Erfahrung und großer Expertise jährlich hunderte Betroffene und Überlebende rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalttaten und rechtsterroristischer Attentate: kostenlos, vertraulich, vor Ort, parteilich im Sinne der Betroffenen und auf Wunsch auch anonym. Aufgrund des unabhängigen Monitorings der Opferberatungsstellen zum Ausmaß von PMK-Rechts Gewalttaten und der langjährigen Begleitung und Beratung der Angegriffenen zur Wahrnehmung ihrer Rechte als Verletzte u.a. in Straf- und Zivilverfahren halten wir eine Überarbeitung des Sanktionenrechts und insbesondere der Strafzumessung in § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB für dringend notwendig. Denn die derzeitige Justizpraxis zeigt: Rassismus, Antisemitismus und LGBTIQ* Feindlichkeit sowie Misogynie werden in vielen Gerichtsbezirken in Ost- und Westdeutschland bislang nicht ausreichend als Tatmotive für schwerste Gewalttaten wahrgenommen und entsprechend auch nicht bei der Strafzumessung der Täter*innen berücksichtigt.
Zu III. Erweiterung der Strafzumessungsnorm § 46 StGB nimmt der VBRG e.V. wie folgt Stellung:
Im Referent*innenentwurf des BMJ heißt es: „§ 46 Absatz 2 StGB nennt Umstände, die bei der Strafzumessung zu berücksichtigen sind. Menschenverachtende Beweggründe und Ziele sind danach besonders zu berücksichtigen. Beispielhaft genannt hierfür werden rassistische, fremdenfeindliche und antisemitische Beweggründe und Ziele. In diese Liste sollen nunmehr ausdrücklich auch ‚geschlechtsspezifische’ sowie „gegen die sexuelle Orientierung gerichtete“ Tatmotive aufgenommen werden. Der Begriff ‚geschlechtsspezifisch’ soll dabei nicht nur die unmittelbar auf Hass gegen Menschen eines bestimmten Geschlechts beruhenden Beweggründe erfassen, sondern auch die Fälle einbeziehen, in denen die Tat handlungsleitend von Vorstellungen geschlechtsbezogener Ungleichwertigkeit geprägt ist. Dies ist etwa dann der Fall, wenn der Täter gegenüber seiner Partnerin oder Ex-Partnerin mit Gewalt einen vermeintlichen patriarchalischen Herrschafts- und Besitzanspruch durchsetzen will. Die ausdrückliche Nennung der „gegen die sexuelle Orientierung gerichteten“ Tatmotive betont die Notwendigkeit einer angemessenen Strafzumessung für alle Taten, die sich gegen LSBTI-Personen richten.“ (vgl. Gesetz zur Überarbeitung des Sanktionenrechts – Ersatzfreiheitsstrafe, Strafzumessung, Auflagen und Weisungen sowie Unterbringung in einer Entziehungsanstalt).
Als Beratungsstellen für Betroffene rechtsmotivierter, rassistischer und antisemitischer Gewalt fordern wir die erneute Erweiterung der Strafzumessungsnorm. Die explizite Benennung der fraglichen Tatmotivationen, die strafschärfend berücksichtigt werden sollen, ist für die Anwendung in der juristischen Praxis wichtig, der verallgemeinernde Begriff der sonstigen menschenverachtenden Motive ist zu unbestimmt. Noch vor Verabschiedung des „Gesetzes zur Umsetzung der Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages“ vom 12. Juni 2015 hatten sich die Beratungsstellen aufgrund der Erfahrung bei der Begleitung von zahlreichen Betroffenen von gewaltförmiger Hasskriminalität auf ihrem Weg durch die Instanzen dafür ausgesprochen, einen geschlossenen Merkmalskatalog in § 46 Absatz 2 StGB aufzunehmen. (Siehe: Stellungnahme der Opferperspektive e.V. sowie aller ostdeutschen Opferberatungsstellen und der Opferberatung Rheinland vom 20. Juli 2014). In dieser Stellungnahme der Beratungsstellen Betroffener rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt aus 2014 zum Referent*innenentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz „Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung von Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages“ wurde bereits auf zu erwartende Probleme in der Anwendung des Gesetzes hingewiesen: „Es steht zu befürchten, dass hier die symbolische Form überwiegt und die Auswirkungen an den tatsächlichen Bedürfnissen der Betroffenen von rassistischen Straftaten vorbeigehen.“ Nach nunmehr fünfjähriger Praxiserfahrung zur Anwendung des § 46 StGB Abs. 2 Satz 2 in Gerichtsverfahren nach rechts, rassistisch und antisemitisch motivierten Gewaltstrafteten ergänzen wir unsere bisherigen Einschätzungen um folgende Forderungen, um die Strafzumessungsnorm konsequent zur Anwendung zu bringen.
Das seit 2019 geplante Forschungsvorhaben zur Anwendungspraxis von §46 Abs. 2 Satz 2 StGB muss durch das BMJ nunmehr schnellstmöglich auf den Weg gebracht werden.
(1) Das Bundesministerium der Justiz (BMJ) hatte im Frühjahr 2022 ein Forschungsvorhaben zur Strafzumessung bei Hasskriminalität Konkret soll die justizielle Praxis in diesem Deliktsbereich empirisch untersucht werden. In der Ausschreibung war geplant, dass die Studie im Herbst 2022 beginnt. Der VBRG hatte in zahlreichen Stellungnahmen eine schnellstmögliche Umsetzung einer derartigen Studie gefordert. (Siehe dazu: Stellungnahme des VBRG „Empfehlungen für konkrete Maßnahmen in den Bereichen Justiz, Innenpolitik und Demokratieförderung“). Denn nur eine an der staatsanwaltschaftlichen und gerichtlichen Anwendungspraxis orientierte Studie zur bisherigen Anwendungspraxis des §46 Abs. 2 Satz 2 StGB kann Hinweise darauf geben, ob die bisherige Reform in Sinn des Gesetzgebers wirksam war und welche weiteren Reformen auch unterhalb einer Gesetzesänderung notwendig sein könnten, um eine adäquate Strafverfolgung bei Hasskriminalität zu gewährleisten.
Das BMJ sollte das im Jahr 2019 vom „Kabinettsausschuss zur Bekämpfung von Rassismus und Rechtsextremismus“ geplante Forschungsvorhaben zur Anwendungspraxis des §46 Abs. 2 Satz 2 StGB nunmehr schnellstmöglich auf den Weg bringen, damit auf der Basis der Ergebnisse der Studie notwendige Anpassungen vorgenommen werden können. (Siehe dazu: Maßnahmenkatalog des Kabinettausschusses zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus vom 25. November 2020)
(2) Das geplante Forschungsvorhaben sollte neben Urteilen auch Ermittlungsakten und Anklageschriften umfassen. Denn mit der Reform des § 46 StGB Abs. 2 Satz 2 in 2015/16 ging auch eine Anpassung der RiStBV und der Polizeidienstvorschriften einher. In Nummer 15 RiStBV wird seit 2015 ausdrücklich geregelt, dass bei der Aufklärung einer Tat auf rassistische, fremdenfeindliche oder sonstige menschenverachtende Beweggründe zu achten ist. Polizeidienstvorschrift (PDV) 100 sieht vor, dass „in Fällen von Gewaltkriminalität rassistische und anderweitig politisch motivierte Hintergründe zu prüfen (sind). Die Ergebnisse sind zu dokumentieren.“
Die in Polizeidienstvorschrift (PDV) 100 und Nr. 15 Abs. 5 RiStBV benannten Regelungen sind kongruent zum § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB anzupassen.
(3) Die benannten Regelungen sind insoweit zu konkretisieren, als dass Ermittlungsbehörden beim geringsten Anhaltspunkt auf eine rassistische, antisemitische, rechte, misogyne oder LGBTQIA*-feindliche Tat verpflichtet sind, den entsprechenden Tatmotiven aktiv nachzugehen, die Ermittlungsschritte zu dokumentieren und gegebenenfalls explizit den Ausschluss entsprechender Tatmotive nachvollziehbar begründet zu dokumentieren. Eine entsprechende Empfehlung findet sich auch im Anschlussbericht des 1. NSU-Bundestagsuntersuchungsausschusses für den Bereich der Polizei: „In allen Fällen von Gewaltkriminalität, die wegen der Person des Opfers einen rassistisch oder anderweitig politisch motivierten Hintergrund haben könnten, muss dieser eingehend geprüft und diese Prüfung an geeigneter Stelle nachvollziehbar dokumentiert werden, wenn sich nicht aus Zeugenaussagen, Tatortspuren und ersten Ermittlungen ein hinreichend konkreter Tatverdacht in eine andere Richtung ergibt. Ein vom Opfer oder Zeugen angegebenes Motiv für die Tat muss von der Polizei beziehungsweise der Staatsanwaltschaft verpflichtend aufgenommen und angemessen berücksichtigt werden.“ (vgl. Abschlussbericht des 1. NSU-Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestags, BT-Drs. 17/14600, S. 861).
(4) Staatsanwaltschaften müssen ihr Weisungsrecht gegenüber den Ermittlungsbehörden in Hinblick auf Nr. 15 Abs. 5 RiStBV wahrnehmen.
(5) Zur konsequenten Anwendung des § 46 Abs. 2 StGB in Gerichtsverfahren müssen Staatsanwaltschaften die entsprechenden Tatmotive – wie etwa Antisemitismus, Rassismus, Rechtsextremismus, Misogynie, Hass auf LGBTIQA*, Sozialdarwinismus – zwingend in der Anklage aufführen, im Rahmen der Beweisaufnahme den Nachweis führen und im Strafantrag/Plädoyer bei der Strafzumessung schärfend einbeziehen.
(6) Um die vorgenannten Punkte gleichermaßen in allen Gerichtsbezirken zu gewährleisten, bedarf es einer bundesweiten Ansprechstelle. Diese Stelle sollte für Betroffene und begleitenden Beratungsstellen als Ansprechstelle dienen, um auf Defizite aufmerksam zu machen.
Einstellungen von Strafverfahren im Sinne einer konsequenten Strafverfolgung von rechts, rassistisch und antisemitischen Gewalttaten darf es nur in Ausnahmefällen geben.
(7) Damit die nunmehr zu erweiternde Strafzumessungsnorm überhaupt vor Gericht zur Anwendung kommen kann, sollten Einstellungen von Strafverfahren im Sinne einer konsequenten Strafverfolgung nur in Ausnahmefällen erfolgen. Die Nummern 86 und 234 RiStBV müssen konsequent angewendet werden. Das heißt, dass das öffentliche Interesse in der Regel anzunehmen ist, „wenn der Rechtsfrieden über den Lebenskreis des Verletzten hinaus gestört und die Strafverfolgung ein gegenwärtiges Anliegen der Allgemeinheit ist, z.B. wegen … der rassistischen, fremdenfeindlichen oder sonstigen menschenverachtenden Beweggründe des Täters …“. Zudem ist „ein besonderes öffentliches Interesse an der Verfolgung von Körperverletzungen dann anzunehmen, wenn der Täter … aus rassistischen, fremdenfeindlichen oder sonstigen menschenverachtenden Beweggründen gehandelt hat, …“ Auch diese Regelungen sind kongruent zum § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB anzupassen.
(8) Grundlegend für die Anwendung vorgenannter Gesetze, Richtlinien und Verordnungen ist die Sensibilisierung von Richter*innen und Staatsanwält*innen in Bezug auf Ideologien der Ungleichwertigkeit. Kenntnis und Sensibilität zu rechten, rassistischen, antisemitischen, geschlechtsspezifischen sowie gegen die sexuelle Orientierung gerichtete Tatmotive sind die Voraussetzung für die entsprechende Handlungs- und Entscheidungskompetenz in solchen Fällen. Dies sollte Bestandteil der Regelausbildung für Jurist*innen werden sowie regelmäßiger Fortbildungen für Staatsanwält*innen und Richter*innen. Notwendige Maßnahmen, die darüber hinaus unkompliziert auf Länderebene ebenso wie bundesländerübergreifend umgesetzt werden können, sind zudem die Einsetzung themenspezifischer Arbeitsgruppen auf Länderebene ebenso wie bundesländerübergreifend sowie die Entwicklung anwendungsorientierter Leitfäden und Standards zu Definition, Erkennen und Nachweisen der spezifischen Tatmotivationen. Hierbei sollten externe Expert*innen sowie Praktiker*innen aus der Opferschutzpraxis einbezogen werden.
(9) Die Justizstatistik muss grundlegend reformiert werden, um rassistische, fremdenfeindliche und antisemitische Beweggründe und Ziele, sowie dann geschlechtsspezifische, misogyne und gegen die sexuelle Orientierung gerichtete Tatmotive überhaupt erfassen zu können. Auch die Einbeziehung in die Strafzumessung und Anwendung von §46 Abs. 2 Satz 2 StGB muss in die standardisierten Erhebungen einbezogen werden. Mit der Reform muss eine Anpassung an das polizeiliche Definitionssystem „Politisch motivierte Kriminalität“ erfolgen, um zukünftig eine Verlaufsstatistik zu vorurteilsmotivierten Taten und Hasskriminalität zu ermöglichen.
Nicht erkannte Tatmotive und überlange Verfahrensdauern benachteiligen Verletzte und wirken sich zugunsten der Täter aus.
(10) Es bedarf der Priorisierung der Strafverfahren zu Gewaltstraftaten, die entsprechende Tatmotivationen von Hasskriminalität aufweisen. Die meisten der Verfahren dauern nach wie vor zu lange, Verfahrensdauern zwischen von mehr als vier Jahren zwischen Tat und erstinstanzlicher Hauptverhandlung sind keine Seltenheit. So warten die Betroffenen der Angriffe am 1. September 2018 in Chemnitz noch immer auf den Beginn der Hauptverhandlungen gegen 27 tatverdächtige organisierten Neonazis aus dem Bundesgebiet. (siehe Podcast „Vor Ort bei der Open Lectures Series #2: Verschleppte Strafverfolgung und ihre Folgen am Beispiel der rassistischen Mobilisierungen in Chemnitz 2018“, Folge #18). Auch die Strafverfolgung des Angriffs auf das jüdische Restaurant Schalom am 27. August 2018 dauert seit mehr als vier Jahren ohne rechtskräftige Verurteilung an (vgl. Prozessbericht „Urteil wegen Angriffs auf das ‘Schalom‘ in Chemnitz im August 2018“).
Die lange Verfahrensdauer wirkt sich in der Strafzumessung auf das Urteil aus, denn sie wird in der Regel strafmildernd zugunsten der Tatbeteiligten berücksichtigt – die Verletzten und Geschädigten werden hier gleich mehrfach benachteiligt. Dies konterkariert die strafschärfende Einbeziehung der Tatmotivation nach vorliegender Strafzumessungsnorm. Für Betroffene entsteht der Eindruck, eines mangelnden Schutzes durch den Rechtsstaat und eines geringen Interesses an der Strafverfolgung. Dies verstärkt Viktimisierungserfahrungen und hat oft einen erheblichen Vertrauensverlust in den Rechtsstaat und seine Institutionen zur Folge. Dieser Vertrauensverlust erfasst sowohl die jeweils angegriffenen Betroffenen als auch darüber hinaus die gesamte Betroffenengruppe und wirkt sich auf die Verfasstheit des demokratischen Rechtsstaats aus. Gerade in Fällen von rechts, rassistisch und antisemitisch motivierten Botschaftstaten eine schnelle prioritäre Antwort des Rechtsstaates auch als deutliches Signal in die Gesellschaft dringend notwendig. Denn ansonsten bestärkt die mangelnde Strafverfolgung das Selbstvertrauen der Täter und potenzieller Nachahmungstäter. Dies zeigt sich ebenfalls am Beispiel der rassistischen Mobilisierungen in Chemnitz 2018, in deren Verlauf der spätere Neonazi-Mörder von Walter Lübcke den Entschluss zum Attentat auf den Regierungspräsidenten von Kassel fasste.
Daher ist der geplante Gesetzentwurf ein notwendiger Baustein, um das Vertrauen der Überlebenden und Verletzten rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in den demokratischen Rechtsstaat wieder herzustellen.
Stellungnahme zum „Referentenentwurf eines Gesetzes zur Überarbeitung des Sanktionenrechts – Ersatzfreiheitsstrafe, Strafzumessung, Auflagen und Weisungen sowie Unterbringung in einer Entziehungsanstalt“ aus dem Bundesministerium für Justiz vom 19. Juli 2022 zum Download